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Ankunft in DeutschlandDas Ende ihrer Flucht

Soubhi Fallaha flog in den Sechzigern von Syrien nach Frankfurt, um zu studieren. Seit letztem Jahr ist auch seine Familie da. Sie kam übers Meer.

Familie Fallaha in Frankfurt Foto: Bernd Hartung

Soubhi Fallaha sagt: „Das ist Bisous. Er ist auch Flüchtling. Eines Tages stand er vor unserer Tür, vollkommen ausgehungert. Er war geschlagen worden. Jedes Mal, wenn man ihn berühren wollte, zuckte er zusammen.“ Bisous streift um die Beine der Menschen, die sich an den Tischen vor Herrn Fallahas Laden Kaffee gönnen – einen oder zwei. Manche rauchen. Bisous ist ein junger Kater.

Soubhi Fallahas Geschäft liegt versteckt: im Hinterhof eines Hauses in Frankfurt am Main. Läuft man die Straße entlang, locken Schilder in Richtung Einfahrt. „Heiße Wurst“, „Paar Frankfurter mit Brötchen“, „Täglich frische Backwaren, auch sonntags“. Dann ein DHL-Schild. Rechts, auf einem Gepäckwagen der zum Laden ausgebauten Garage, stapeln sich Pakete. Bestellungen aus Onlineshops. Leute gehen ein und aus und geben ihre Post ab. Sie kaufen Zigaretten, Zeitschriften, Lottoscheine.

21 war er, sagt Herr Fallaha – Herr Fallaha, so wird er im Laden genannt –, als er von Syrien nach Deutschland kam. Heute ist er 65, sagt er, und dass er in Frankfurt gelandet ist, ein Zufall. Eigentlich hatte er Zusagen von den Universitäten in Lyon und Neumünster, er wollte Maschinenbau studieren, vorher nur noch kurz einen Freund, mit dem er in Syrien zur Schule gegangen war, in Frankfurt besuchen. „Das war’s dann“, sagt er. „Ich bin seit 45 Jahren hier. In Lyon und Neumünster bin ich nie gewesen.“

Herr Fallaha spricht mit leichtem Akzent. Er ist das älteste von zehn Geschwistern und damals – als Einziger aus der Familie – weggegangen aus Syrien. Gegen den Willen der Eltern. „Ich hatte Fernweh“, sagt er. „Schon als ich zwölf war, habe ich ans Auswandern gedacht.“ Ende der Sechziger war das so, meint er: Da wollte man in Syrien gern ins Ausland gehen, um zu studieren. „Das war so ein Trend. Wirtschaftliche Gründe zu gehen, gab es nicht. Es ging uns finanziell gut.“

Unter den Planen der Pick-ups

Die meisten Leute, die in Soubhi Fallahas Laden vorbeischauen, sind Stammkunden. Viele grüßt er mit Namen, bevor sie sich an die Tische im Hof setzen und ihre Zigarettenschachteln auspacken. Innen, an der Wand, reihen sich rote Geranien an Hortensien, Herr Fallaha mag es gepflegt, und er mag es, seinen Kunden Gesellschaft zu leisten: Kommt jemand neues herein, unterbricht er sich selbst im Gespräch und geht ein paar Schritte rüber zur Kasse.

Immer häufiger hilft ihm dabei jetzt sein kleiner Bruder: Als eine Frau den Laden betritt und fragt, ob sie etwas faxen kann, springt Ahmad Fallaha auf. „Ja, ja“, ruft er und stockt kurz, Deutsch fällt ihm noch schwer: „Ja, ich helfe Ihnen!“

taz.am wochenende

Ein junger Mann aus Spandau kommt vor Gericht wegen Hanfanbaus. In Kreuzberg denkt man derweil über die Eröffnung von Coffeeshops nach. Ist das Cannabis-Verbot noch zeitgemäß? Oder wächst es uns über den Kopf? Die Titelgeschichte „Voll Gras!“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Oktober. Außerdem: Zwei Brüder, zwei Reisen. Einer kam Ende der Sechziger aus Syrien nach Frankfurt, der andere vor einem Jahr. Jetzt sind sie wieder vereint. Und: Freilerner sind Kinder, die zu Hause unterrichtet werden. Mit den Behörden geraten sie regelmäßig in Konflikt – wegen der Schulpflicht. Zu Gast in einer WG. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Ahmad ist Soubhi Fallahas jüngster Bruder und seit einem Jahr in Frankfurt. Im September 2012, also noch zwei Jahre früher, begann seine Flucht. Er floh gemeinsam mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern, mit seiner Schwester und ihren fünf Kindern. Sie flüchteten aus Syrien nach Ägypten und blieben dort, zwei Jahre lang, bis es nach Mursis Sturz auch hier zu unsicher wurde.

In 33 Tagen schafften sie es von Ägypten nach Algerien und über Tunesien nach Libyen. Auf der Fahrt durch die Wüste versteckten sie sich unter den Planen der Pick-ups, den Pick-ups der Schleuser. Über ihren Köpfen schoss der Fahrer auf feindliche Banden. Das Boot von Libyen nach Italien lag so tief, dass man mit der Hand durchs Wasser streifen konnte.

Das Boot: Knapp 260 Menschen drängten sich zwölf Stunden auf zehn mal fünf Metern. Gesteuert wurde es von einem Tunesier, so erzählt Ahmad, er nimmt die Hände zum Reden, sein Englisch ist sicher: Der Tunesier war 22, und als sie drohten unterzugehen, wurden sie von einem italienischen Marineschiff gerettet. Man habe sie dort zum ersten Mal gefragt, wie es ihnen gehe. Ihnen und den Kindern.

10.000 Dollar für die Flucht

Ahmad Fallaha erzählt das sachlich. Die Flucht nach Deutschland ist bei ihm eine Erzählung, die schon erzählt wurde; mit verblasstem Gefühl. Immer wieder scrollt er auf seinem Handy und zeigt auf einer Karte die Stationen seiner Reise. Wie viel diese Grenzüberquerung gekostet hat, erklärt er. Wie viel diese und wie viel jene. 10.000 Dollar insgesamt. Er hat sein Auto dafür verkauft, sagt er. Sein Erspartes weggegeben. Übrig geblieben ist nichts. Die Schlepper nennt er „die Mafia“.

Für alles wollten sie Geld, sagt Ahmad. 80 Dollar für Schwimmwesten, die eigentlich nur 20 kosten. 100 Dollar für die Verpflegung, am Tag. Fragt man Ahmad, wie die Reise war, sagt er „gut“, wieder und wieder: „gut.“ „Wir hatten Glück“. Vor allem, sagt er dann, weil sie in Italien oder Frankreich niemand um ihre Fingerabdrücke gebeten habe. „Die waren froh, wenn wir ins nächste Land weiterziehen.“ Erst wenn er über seinen Sohn redet, seinen Jüngsten, gewinnt Ahmad Fallahas Stimme Gefühl.

Er zeigt ein Video aus Saqba, einem Vorort von Damaskus, fünfzehn Autominuten von seiner Heimatstadt entfernt. „120 Menschen sind da gerade ums Leben gekommen.“ Auf seinem Handydisplay erscheinen die Bilder verstümmelter Menschen. Von blutenden Menschen und von schreienden. Das Video haben ihm Freunde geschickt, „solche Filme sieht man nicht im deutschen Fernsehen“, sagt er. „Mein Sohn hat zu viele Tote gesehen. Sie waren überall auf der Straße. Jetzt kann er nicht richtig sprechen. Er stottert.“

Soubhi Fallaha – der Ende der Sechziger in ein Flugzeug gestiegen war, Damaskus–Frankfurt: es war ein Direktflug –, Soubhi hat seinen Bruder in Frankfurt abgeholt, als er gelandet ist. Den Bruder, die Schwester, die acht Kinder. Soubhi hat sie zu sich nach Hause gebracht, er ließ sie duschen, ging los, um für alle neue Kleider zu kaufen. Er fuhr sie in ein Erstaufnahmelager nach Gießen. Es war ein Heim für 300 Leute. Knapp 1.000 lebten dort.

Zwei Brüder, zwei Umzüge, zwei Ankünfte

Sie blieben zwei Wochen, verbrachten einen weiteren Monat in einem Heim der hessischen Kleinstadt Bad Arolsen – und wurden anschließend, Mitte Oktober, in ein Flüchtlingshotel am Frankfurter Hauptbahnhof verlegt. Im März stellte man Ahmad Fallaha und seiner Familie eine Wohnung. Für ein Jahr. „Wieder hatten wir Glück“, sagt er. Seine Schwester habe mehr als ein Jahr auf eine Wohnung gewartet. Ihre Kinder sind älter, das jüngste der fünf ist 13.

Zwei Brüder, zwei Umzüge, zwei Ankünfte – und doch war es so anders, als Soubhi Fallaha hier ankam. Von den 300 DM, die er dabeihatte, mietete er sich ein Zimmer ohne Bad. Er duschte im Hallenbad. Im ersten deutschen Winter war ihm kalt. „Ich wollte meinen Eltern etwas beweisen“, sagt Soubhi Fallaha. „Niemals hätte ich sie nach Geld gefragt, eher wär ich betteln gegangen.“

Er wollte Geld sparen und etwas Eigenes aufbauen, wie seine Verwandten und Vorfahren es in Syrien getan hatten. Soubhi Fallaha: Er kommt aus einer Unternehmerfamilie. Sein Vater, Großvater, Urgroßvater – alle waren Kaufleute. „In unserer Familie waren immer alle selbstständig, niemand ist angestellt. Das steckt mir auch im Blut.“

Die Fallahas, die in Syrien geblieben sind, in Damaskus, hatten mehrere Geschäfte und mehrere Supermärkte. Der Supermarkt, der Soubhi Fallahas Schwager gehörte, wurde von der syrischen Armee geplündert und zerschossen. Als die Mitarbeiter sich wehrten, schlug man sie, ein paar wurden verhaftet.

„Es ist Krieg und Sie müssen schnell weg“

Soubhi Fallaha würde gern einen zweiten Laden in Frankfurt aufmachen und seine Verwandten dort beschäftigen. „Ich will sie mit einbinden, in meine Selbstständigkeit.“ Obwohl einige von ihnen in Syrien studiert haben, hätten sie das meiste vom Vater und Großvater gelernt, nicht in der Schule, sagt Soubhi.

Schon jetzt stehen sie in seinem Laden und helfen aus, so gut sie können, sie versuchen Deutsch zu sprechen. Jobs haben sie nicht, ihre Sprachkenntnisse seien zu klein – bislang: Viermal die Woche gehen sie in die Volkshochschule zum Deutschunterricht.

Dass die fehlende Sprache das größte Hindernis für ihren Alltag ist, merkt Soubhi Fallaha jeden Tag. Er ist Dolmetscher für alles, für jeden seiner Verwandten, um die er sich nun sorgt. „Ich gehe mit elf Leuten zum Zahnarzt, zu den Ämtern, zum Jobcenter, zu Wohnungsbesichtigungen. Und kriege Absagen, sobald die Leute hören, dass die Miete vom Amt bezahlt wird.“

Das Jobcenter bezahlt keine Makler. Soubhi Fallaha macht es also allein, er hat bei über 100 Vermietern angerufen. Wenn die Vermieter hören, dass das Jobcenter die Miete übernimmt, „dann blocken die ab. Ich habe gesagt: Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und Sie müssen schnell weg. Das kann jedem passieren, meine Verwandten sind zivilisierte Leute. Lassen Sie uns vorbeikommen.“

„Ich denke auf Deutsch“

Zuletzt hat Soubhi Fallaha beschlossen, selbst eine Wohnung zu mieten – und sie an seine Familie unterzuvermieten, da zog das Jobcenter mit. Wie das Syrer machen, die hier keine Verwandte haben, weiß Soubhi Fallaha nicht. Er kennt viele Syrer, die schon lange im Flüchtlingshotel wohnen und vergeblich eine Wohnung suchen. „Diese Menschen tun mir leid.“

Soubhi Fallaha ist jetzt das Familienoberhaupt, der älteste Mann in seiner Familie, und nach syrischer Tradition kümmert sich das Familienoberhaupt um die Jüngeren. Er ist jetzt der Kümmerer. Die Kinder bleiben, solange sie nicht verheiratet sind, zu Hause. Die Frauen arbeiten meistens nicht. Auch in Syrien haben die Frauen in Fallahas Familie, so erzählt er, nicht gearbeitet. Was sie in Frankfurt machen werden? Er weiß es nicht.

Er weiß, dass das sein Land ist. „Ich denke auf Deutsch“, sagt er. Dass er sich eher deutsch fühlt als syrisch. Dass er zwei Drittel seines Lebens hier schon wohnt. Dass er Fußball liebt, Fan ist von Eintracht Frankfurt und Bayern München. Wenn Soubhi Fallaha auf sein Handy schaut, sieht er sein Profilfoto bei WhatsApp immer so: lächelnd, stolz, mit seinem Enkel auf dem Arm. Beide tragen Fußballtrikots.

Sein Sohn und ein Freund, erzählt er, seien mit 200 Euro ins Casino in Wiesbaden gegangen und mit 3.000 Euro wieder rausgekommen. Davon hätten sie drei Tickets gekauft und ihn eingeladen: Bayern München gegen Barcelona. Champions League, Halbfinale in München. Bayern gewann. „4:0.“

Und trotzdem, meint Soubhi Fallaha – seinem Bruder, der nun hinter der Kasse steht, hinter den Backwaren, nickt er zu: Die guten Eigenschaften seiner syrischen Identität habe er behalten. Welche? „Den Familienzusammenhalt.“ Es sei anstrengend: die große Familie. Dass alle durchkommen, irgendwie. „Aber schön anstrengend.“

Drüben, am Nebentisch, hat eine Kundin mitgehört. Sie raucht, hat hin und wieder Bisous übers Fell gestreichelt. Jetzt schüttelt sie den Kopf, ungläubig, als sei das alles zu weit weg: Menschen mit Kalaschnikows, auf Pick-ups in der Wüste – wenn man in Frankfurt in einem friedlichen Hof sitzt. Allein, sich plötzlich um elf Verwandte kümmern zu müssen.

Wieder schüttelt sie den Kopf. „Die meisten Leute hier wissen nicht, wo ich herkomme – oder dass meine Helfer zu meiner geflohenen Familie gehören“, sagt da Herr Fallaha. „Sie denken, ich bin vielleicht aus Spanien.“

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