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■ Anklageerhebung gegen den vielfachen Premier AndreottiTeufel oder Sündenbock?

Daß der Mann seinerzeit Enthüllungen über die Entführung und den Mord an dem christdemokratischen Parteiführer Aldo Moro fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, ist amtsnotorisch. Andreotti hatte in dem „Fall Moro“ eine überaus dubiose Rolle gespielt – daß er oder seine Zuarbeiter damals, 1979, auch für einen Mordauftrag gut waren, ist durchaus nicht auszuschließen. Dennoch: Selbst wenn man sein Journalistenleben lang gegen diesen Mann gekämpft hat, ihn als Gangsterfreund und durchtriebenen Obermauschler denunziert hat – das, was Italien derzeit mit ihm anstellt, muß uns alle in höchste Alarmbereitschaft versetzen.

Während Oberschmiergeldempfänger wie Bettino Craxi, während Camorra-Verdächtige und andere ehemals hochgestellte Ehrenmänner noch immer Fürsprecher finden und mitunter gar Demonstranten für sich auf die Straße bringen, gibt es um Andreotti herum nur „verbrannte Erde“: Geradezu gespenstisch isoliert sitzt er im Außenausschuß des Senates, dem er, aufgrund seiner vom Staatspräsidenten 1991 festgestellten „höchsten Verdienste ums Vaterland“, auf Lebenszeit angehört. Ohne Kontakt nach rechts und links, starr, wie ein Puppe.

Italien hat für Andreotti offenbar vor allem zwei Rollen vorgesehen: die des Bösewichts, der für alles und jedes zuständig ist, was im Lande Schlimmes passiert ist; und insofern wurde er auch von allen fallengelassen – zur Freude jener, die noch immer hoffen, sich von ihrem schweren Sturz aus der Schmiergeldrepublik irgendwann einmal wieder zu berappeln. Eine Verurteilung in Palermo oder Perugia ist nicht unwahrscheinlich – vielleicht zu lebenslänglich.

Beunruhigender ist jedoch die zweite Rolle: Mit der Abschiebung des einst mächtigsten Mannes und notorischen Stehaufmännchens der italienischen Politik sollen wohl auch die Gewissensbisse verdrängt werden, die auch viele „gewöhnliche“, politikferne Italiener plagen: das Gefühl, daß dieser Mann irgendwie das System verkörpert, in dem sie ein halbes Jahrhundert, alles in allem, gar nicht so schlecht gelebt haben. Der Blick „Wieso ist der denn noch da?“ drückt genau das aus. Andreotti erinnert an eine Vergangenheit, in der man sich mit den vielen Andreottis im Lande gut stellte – was man aber nach all den Skandalen nicht mehr gerne wahr hat.

Italien sollte also aufpassen, seinen Andreotti nicht zum Sündenbock zu machen. Es würde wenig zur wirklichen Selbstreinigung helfen – und ihm selbst in die Hände arbeiten. Denn es ist genau jene Rolle, die er sucht: Ihr fühlt er sich am besten gewachsen. Die Ladung vieler ausländischer „Bürgen“ für seine Integrität, die seine Verteidiger für den Prozeß angekündigt haben, weist genau darauf hin. Werner Raith

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