Angebote für Menschen mit Behinderung: „Selbsthilfe gibt den Kick“
Angebote für Menschen mit Behinderung sind zu wenig bekannt, sagt Dominik Peter vom Behindertenverband. Ein Aktionstag soll helfen.
taz: Herr Peter, Sie sagen, viele Menschen wüssten gar nicht mehr, was Selbsthilfe ist …
Dominik Peter: Uns begegnet es ganz oft, dass wir das erst erklären müssen. Und selbst wenn Selbsthilfe bekannt ist, bestehen häufig Vorurteile dagegen. Viele haben da nur ein Bild im Kopf: Eine Handvoll Männer beweint sich, weil sie nicht vom Alkohol loskommen. Vielleicht kennen Sie den Film „Der bewegte Mann“, da kommt das genau so vor. Aber tatsächliche Selbsthilfe hat damit nichts zu tun.
Sondern?
Selbsthilfe ist heute sehr breit aufgestellt. Es gibt Angebote zu fast jeder Art von Behinderung oder Erkrankung. Beratungen, Gruppentreffen, aber zum Beispiel auch Angebote mit sportlichen Aktivitäten für psychisch Erkrankte, weil man festgestellt hat, dass das enorm heilsam ist. Oder es gibt eine ganz tolle Selbsthilfegruppe für traumatisierte Frauen aus Kriegsgebieten. Sie wird geleitet von Frauen, die selbst vor vielen Jahren traumatisiert nach Deutschland gekommen sind. Das ist auch das Besondere an Selbsthilfe: Dass man mit anderen Betroffenen auf Augenhöhe sprechen kann und Tipps bekommt. Dass das Gold wert ist, weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte vor 20 Jahren einen Unfall und bin seitdem querschnittsgelähmt. Schon im Unfallkrankenhaus wurde ich auf Selbsthilfeangebote aufmerksam gemacht und wusste später genau, wohin ich mich wenden kann.
Das ist aber doch nicht die Regel?
Jahrgang 1964, ist seit 2013 Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes
Es gibt Krankenhäuser, die da sehr aktiv sind. Und dann gibt es ganz viele Krankenhäuser und Ärzte, die das überhaupt nicht tun. Da werden die Patienten entlassen und haben überhaupt keine Ahnung, dass es speziell für sie Selbsthilfeangebote gibt. Warum bekommen die Patienten nicht direkt mit ihrem Entlassungsbrief einen Überblick über die entsprechenden Angebote mit?!
Wie gut steht denn Berlin in Sachen Selbsthilfe da?
Berlin ist eine kunterbunte Stadt, und das spiegelt sich auch in den Selbsthilfeangeboten wider. Ich glaube, wir decken fast alles ab, was man sich vorstellen kann, häufig gibt es sogar ein Angebot direkt in dem Bezirk, in dem jemand wohnt. Es gelingt uns aber eben nicht, damit auch durchzudringen. Dass zum Beispiel eine traumatisierte Frau, die in einer Flüchtlingsunterkunft ankommt, nicht automatisch die Information bekommt, dass es eine Selbsthilfegruppe speziell für Frauen wie sie gibt, das ist ein Informationsnotstand, den wir sehr bedauern.
Ist Selbsthilfe besser als professionelle Hilfe oder eine Ergänzung?
Sich fremden Personen zu öffnen ist sehr, sehr schwer. Steht da aber eine Person, die das Gleiche durchgemacht hat wie man selbst, dann – das erlebe ich immer wieder – spricht man das heiße Eisen sofort an. Das kann ein Arzt nicht leisten. Aber natürlich gibt es immer wieder den Punkt, wo Menschen einen Arzt oder einen Krankenhausaufenthalt brauchen. Die Selbsthilfe ist ein Glied in der Kette zur Gesundung.
Selbsthilfe: Am Freitag, den 11. Oktober veranstaltet der Berliner Behindertenverband einen Aktionstag unter dem Motto „Selbsthilfe schafft Abhilfe“ mit über 50 Organisationen vor Ort. Ab 14 Uhr auf dem Potsdamer Platz. Infos: bbv-ev.de/veranstaltungen.
Seelische Gesundheit: Bereits heute, am Welttag der seelischen Gesundheit, veranstaltet die Selbsthilfeorganisation Bipolaris am selben Ort einen Markt als Überblick über Unterstützungsangebote, außerdem eine Demonstration gegen die Stigmatisierung von psychisch Erkrankten. Infos: der-markt.berlin.
Sind davon nur Sie überzeugt oder ist das auch die Schulmedizin?
Das ist ja das Interessante: Die Krankenkassen sind komplett überzeugt von unserer Arbeit. Deshalb unterstützen sie zum Beispiel auch unsere Aktionstage.
Was erhoffen Sie sich denn von der Aktion? Die Ärzte und Krankenhäuser erreichen Sie damit wohl eher nicht …
Dass da ein Chefarzt vorbeikommt, glaube ich auch eher nicht. Wir wollen die Betroffenen selbst erreichen. Deshalb gehen wir zentral auf den Potsdamer Platz, mit Musik und Zelten, Werbung in U-Bahnhöfen.
Was hat Ihnen selbst die Selbsthilfe gegeben?
Das hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ich lag Monate im Krankenhaus, war vorher Reisejournalist und konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich jemals wieder arbeiten kann. Dann habe ich Menschen im Rollstuhl getroffen, die ganz normal arbeiten, einen Bundestagsabgeordneten zum Beispiel, der seine 16-Stunden-Arbeitstage schob. Das hat mir den Kick gegeben, aus dem weinerlichen „Wie böse ist das Leben mit dir gewesen“ rauszukommen.
Und nun sind Sie seit Jahren selbst in der Selbsthilfe aktiv …
Weil ich das zurückgeben will, was ich selbst bekommen habe. Und auch dafür bekomme ich so viel. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, da kommen mir heute noch die Tränen. Im Sommer mieten wir immer barrierefreie Busse und fahren ins Brandenburgische in ein Freibad. Dort gibt es einen Steg mit Lifter, sodass Menschen, die nicht gehen können, ins Wasser gehoben werden können. Einmal war auch eine Frau Anfang 80 dabei, und ich sagte zu ihr: „Und, gehst du auch schwimmen?“ „Nee“, hat sie gesagt, „ich schau mir das nur an.“ Irgendwann packte sie doch ihren Badeanzug aus. Als wir zurückfuhren, nahm sie meine Hand und sagte: „Das war seit vielen Jahrzehnten der schönste Tag.“ Das ist Selbsthilfe.
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