André Gorz: Der Verabschieder des Proletariats
Das "Reich der Freiheit" hielt Gorz für möglich. Das Mittel hierzu sah er in der Umverteilung der Arbeit.
Schon lange ist André Gorz nicht mehr öffentlich aufgetreten. Als ich ihn Anfang der Neunzigerjahre auf eine Veranstaltung nach Berlin einladen wollte, lehnte er ab: Er reise mit Rücksicht auf seine pflegebedürftige Frau nicht mehr. Nur selten hat er seinen Wohnsitz in Vosnon, einem kleinen Ort etwa hundert Kilometer von Paris entfernt, für mehr als einen Tag verlassen. Aber André Gorz musste nicht mehr auf Vortragsreisen gehen, um gehört zu werden. Er war einer der bedeutendsten Theoretiker der Neuen Linken, ein der menschlichen Emanzipation und Freiheit verpflichteter Philosoph mit marxistischen Wurzeln. Seine keineswegs leicht zu lesenden Bücher erreichten hohe Auflagen und beeinflussten ganz wesentlich die Debatten der undogmatischen Linken.
Nun hat er seinem Leben gemeinsam mit seiner Frau ein Ende gesetzt. Ich weiß nichts über die Motive. Aber es erinnert an Arthur Köstler, der vom linientreuen kommunistischen Parteimitglied zum unerbittlichen linken Kritiker des Stalinismus wurde und der den gemeinsamen Freitod mit seiner Frau als äußersten Ausdruck der freien, selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben verstand. André Gorz war ebenfalls ein Theoretiker der Freiheit, aber gleichzeitig auch der freiwilligen, selbstgewählten menschlichen Bindung. Die gesellschaftlichen Bedingungen für eine so verstandene individuelle und soziale Emanzipation standen im Mittelpunkt seines Denkens.
Hierzulande wurde er mit seiner provokativen Schrift "Abschied vom Proletariat" aus dem Jahr 1980 bekannt. Die Gewerkschaften als Vertretung eben dieses Proletariats reagierten mit heftiger Ablehnung, ohne zu begreifen, dass Gorz nichts weiter als den unvermeidlichen Niedergang des männlichen, vollzeitbeschäftigten Lohnarbeiters beschrieb und der Linken empfahl, ihre Fixierung auf die traditionelle Lohnarbeit aufzugeben. Eine emanzipatorische, auf individuelle und soziale Freiheiten zielende politische Strategie müsse über die inhaltlichen und sozialen Grenzen der traditionellen Arbeiterbewegung hinausreichen und die Anregungen der Frauen- und der Ökologiebewegung berücksichtigen.
Gorz wurde mit dieser Schrift einer der Theoretiker der damals noch neuen "Neuen Sozialen Bewegungen". 1983, in dem Band mit dem verheißungsvollen Titel "Wege ins Paradies - Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit" präzisierte er diesen Gedanken. Die allgemeine Verkürzung und Umverteilung der entlohnten Arbeit erklärte er darin zum Schlüssel einer emanzipatorischen Umgestaltung der Gesellschaft. Bei aller Kritik, die Gorz an der traditionellen Arbeiterbewegung hatte, wollte er sich, anders als die Neuen Sozialen Bewegungen, nicht völlig von ihr abwenden.
In einem Interview, das im 1994 in der taz erschien, sagte er: "Die Umverteilung der Arbeit ist eine langfristig angelegte Politik, die den Versuch unternimmt, das schrumpfende Arbeitsvolumen kontinuierlich auf die Gesamtheit der arbeitenden Bevölkerung zu verteilen. Dabei wird der Arbeitslosigkeit durch eine fortschreitende Arbeitszeitverkürzung vorgebeugt und gleichzeitig ein sich kontinuierlich ausdehnender Raum für nichtwirtschaftliche Aktivitäten eröffnet." Eine solche Umverteilung der Arbeit, davon war Gorz überzeugt, kann ohne die Gewerkschaften nicht durchgesetzt werden. Doch die Gewerkschaften allein genügen nicht. Die Verkürzung und Umverteilung der Arbeit müsse auch ein "politisches und kulturelles Projekt" werden, bedarf also gesetzlicher und sozialer Regelungen.
In diesem Zusammenhang verwies Gorz auf skandinavische Modelle arbeits- und sozialrechtlicher großzügiger Freistellungsregelungen (Rückkehrgarantien und Lohnersatzleistungen. In den so gewonnenen, nicht durch den Zwang zum Broterwerb gebundenen Zeiten erschien für Gorz jenes "Reich der Freiheit", das Marx als Ergebnis der Produktivkraftentwicklung nach der proletarischen Revolution erwartete. In den sich erweiternden Freiräumen können die "zwischenmenschlichen Dienstleistungen (...) aus der instrumentellen Rationalität des Geldverdienens befreit werden und sich als Selbstzweck entwickeln".
Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lehnte Gorz ab: "Wenn es zu niedrig ist, erlaubt es allen möglichen Profiteuren, in Deutschland chinesische oder ukrainische Löhne für irgendwelche Drecksarbeiten zu zahlen. (...) Man subventioniert also die widerlichsten Ausbeuter. Und wenn das garantierte Grundeinkommen wirklich ausreichend ist, subventioniert und ermutigt man damit die Weigerung, überhaupt etwas zu tun, Man erlaubt dadurch den Arbeitgebern, die ganze notwendige Arbeit den Hochleistern vorzubehalten - die anderen können zu Hause bleiben oder Fußball spielen. In beiden Fällen spaltet sich die Dualgesellschaft immer tiefer."
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