André Gorz: Ein Sozialist auf freiem Fuße
André, der Sohn eines jüdischen Holzhändlers, und Dorine, die Engländerin in Paris, lebten in Autonomie - bis zum Schluss.
André Gorz, der große Sozialphilosoph und Denker eines "Jenseits" des Kapitalismus, ist gemeinsam mit seiner todkranken Frau im Alter von 84 Jahren aus dem Leben geschieden. Sein Entschluss mutet wie die logische Konsequenz aus der wunderbaren Liebeserklärung an, die er im vorigen Jahr mit seinem "Brief an D." seiner jahrzehntelangen Gefährtin Dorine gemacht hat. Mit dieser letzten Geste behauptete das Ehepaar seinen Anspruch auf freier Selbstbestimmung, der Gorz, der Freund Jean-Paul Sartres, sein Leben lang folgte.
In seinem "Brief an D." der ursprünglich nur für die Lektüre weniger Freunde gedacht war, schreibt Gorz: "Doch nichts von alledem kann das unsichtbare Band beschreiben, durch das wir uns von Anfang an vereint fühlten. So verschieden wir sein mochten, immer spürte ich, dass uns etwas Fundamentales gemeinsam war, so etwas wie eine ursprüngliche Wunde - der Erfahrung der Unsicherheit () Für Dich wie für mich bedeutete sie, dass wir in der Welt keinen festen Platz hatten. Wir würden nur den Platz haben, den wir uns schufen. Wir mussten unsere Autonomie auf uns nehmen."
Gorz schreibt, er habe stets jede Identität verworfen und Identitäten angehäuft, die nicht die seinen waren. In seiner schon früh verfassten Autobiografie "Der Verräter" beschreibt er ein prägendes Erlebnis: "Meine Identität zu verlieren habe ich angefangen, als einer meiner lieben Mitschüler mir ein Plakat zeigte, auf dem ein Jude mit Locken, mit einer krummen Nase, triefenden Lippen und hakigen Fingern abgebildet war, und sagte: Das ist Dein Vater. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich kein normaler Mensch war, dass ich in den Augen der anderen nicht ebenbürtig und gleichwertig war."
Gorz konnte mit seiner Gefährtin jene gemeinsame, selbst gewählte, autonome Zone aufbauen, weil auch sie, die geborene Engländerin, nicht in einer präfabrizierten national-kulturellen Identität verwurzelt war. So wenig wie Gorz selbst. Der Sohn des jüdischen Wiener Holzhändlers Gerhard Hirsch, der zum Katholizismus konvertierte und den Familiennamen in Horst verwandelt hatte, überlebte im Schweizer Exil in verschiedenen Internaten.
Gerhard Horst begeisterte sich als Jugendlicher für die Schriften Jean-Paul Sartres, hörte nach Kriegsende einen Vortrag des Meisters und folgte ihm nach Paris. Er nannte sich nun André Gorz und wurde Franzose, denn das Französischsein war für ihn nicht mit einem ethnischen Code, sondern mit universellen Werten identisch. Er übersetzte Krimis, trat in die Redaktion von Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes ein, um schließlich als leitender Redakteur der Zeitschrift Le Nouvel Observateur zu journalistischem Ruhm zu gelangen.
Schon früh, seit den Sechzigerjahren, kreiste sein Denken um die Marxsche Konzeption der Arbeit und die Einsicht, dass mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ständig abnehme. Aus der Utopie der frei bestimmten schöpferischen Tätigkeit wurde mehr und mehr eine reale Möglichkeit. Allerdings begriff Gorz die gesellschaftliche Entwicklung nie als gesetzmäßig, wie er auch schroffe Distanz hielt zu den realsozialistischen Parteien. Gorz wollte kein Medienstar sein. Selbst 1968, als er die Revolte der Studenten unterstützte, war er für Großveranstaltungen nicht zu haben. Er brauchte die Gesellschaft kleiner, interessierter Auditorien, wobei er keine Berührungsängste zeigte - weder vor Sozialdemokraten noch vor Linksradikalen.
Sich selbst charakterisierte er als philosophischer Journalist. 1990 sagte er der taz: "Das Fragen, das Staunen, die Zweifel, die Wut, die dir die Wirklichkeit verursacht, sind der wichtigste Anstoß und der Zugang zu ihrer Entschlüsslung." Und an anderer Stelle schreibt er: "Als Journalist ist man gezwungen, ununterbrochen zu lernen, die Fähigkeit zu entwickeln, die kompliziertesten Sachen in einfacher, allgemein zugänglicher Weise dazulegen. Ich weiß nicht, ob ich ein Philosoph geblieben bin. Wahrscheinlich nicht."
Gorz focht es nicht an, dass er von einem Teil der Linken wegen seines "Abschieds vom Proletariat" exkommuniziert, von einem anderen Teil als luxurierender Denker, der sich um das konkrete Schicksal der Arbeiter nicht kümmert, abgetan wurde. Da er kein Modeautor war, musste er einen Wechsel der Moden nicht fürchten. Er blieb, wenn auch sein Thema gleich einem toten Hund traktiert wurde, ein Sozialist auf freiem Fuß.
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