: Anatomiestunde
Überwiegend heiter, gar ironisch: Christa Wolfs neue Erzählsammlung „Mit anderem Blick“ präsentiert nicht ganz so neue Erzählungen
von OLIVER PFOHLMANN
Warum wechseln eigentlich manche Autoren im Alter noch einmal den Verlag? Zumal wenn ihre Werke längst in stolzen Gesamtausgaben vorliegen und ihre Namen mit denen ihrer einstigen Hausverlage untrennbar verbunden scheinen? Ist es die Hoffnung, das eigene Schreiben möge noch einmal einen vitalisierenden Schub bekommen? Schließlich ist ein solcher Schritt jenseits der 75 immer auch so etwas wie ein sich und dem Leser gegebenes Versprechen auf weitere bedeutende Werke.
So gesehen erscheint Christa Wolfs Erzählsammlung „Mit anderem Blick“, ihr erstes Buch bei Suhrkamp, als verunglückter Einstand. Man weiß, dass diese große Autorin, die zuletzt mit „Leibhaftig“ und „Ein Tag im Jahr“ ihr Comeback bei der offenbar wieder zur Besinnung gekommenen Kritik erlebte, seit längerem an einem neuen Prosawerk mit dem Arbeitstitel „Stadt der Engel“ werkelt. Ihre Erlebnisse als Stipendiatin des Getty Center in Los Angeles 1992 sollen das Erzählgerüst sein. Tatsächlich gehen auch einige der Texte in diesem Band auf ihren USA-Aufenthalt zurück. Ebenso hat es Tradition, dass Wolf alle paar Jahre verstreut erschienene Gelegenheitsarbeiten gesammelt publiziert.
Aber hier sind gleich vier Texte, „Nagelprobe“, „Im Stein“, „Begegnungen Third Street“ und „Wüstenfahrt“, Übernahmen aus früheren Prosasammlungen, aus „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) und „Hierzulande andernorts“ (1999). Es sind nicht nur die literarisch gewichtigeren Beiträge, sie machen auch über die Hälfte der knapp 190 Seiten aus. Dieses Buch nun als einen Höhepunkt des Saisonprogramms zu präsentieren, wie es Suhrkamp getan hat, ist ein wenig dreist. Unter den übrigen Texten, die fast alle bereits in Literaturzeitschriften, Anthologien oder als Separatdrucke veröffentlicht wurden, springt zunächst „Donnerstag, 27. September 2001“ ins Auge, die Fortsetzung der Wolf’schen Tagesprotokolle.
Wie schon bei früheren „Störfällen“ wird es auch wenige Tage nach dem WTC-Attentat für die Erzählerin wichtig, sich all der sonst so lästig scheinenden Handgriffe zu versichern, die den „kostbaren Alltag“ ausmachen. Der „Riss im Gewebe der Zeit“, als den sie den 11. 9. empfindet, verändert nicht nur die Wahrnehmung, lässt die vertraute urbane Umwelt als verletzliches, potenzielles Ziel von Zerstörungswut erkennbar werden.
Er führt auch, wenig überraschend, zu einer Schreibkrise. Einmal mehr schrumpfen für Christa Wolf die „Grenzen des Erzählbaren“. Während alle Welt auf den angekündigten Vergeltungsschlag gegen Afghanistan wartet, während auf dem Nachbargrundstück Weltkriegsmunition gesprengt wird, die Vergangenheit also erneut die Gegenwart einholt, vergewissert sich Wolf ihres literarischen Programms: „In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend.“
Auch die meisten anderen Texte sind unverhohlen autobiografisch, der Abschied Christa Wolfs von Fiktion und dritter Person scheint endgültig. „Assoziationen in Blau“ zeigt wieder die Sprachkritikerin Wolf, die die Bedeutung von Wörtern und Redensarten prüft und semantische Abgründe auslotet.
Doch überwiegen in dem Band die heiteren, komödiantischen, (selbst-)ironischen Texte, geschrieben in einer unspektakulären, aber geschmeidigen Prosa. Wie „Fototermin L. A.“, der einzige bislang unveröffentlichte Beitrag, eine gelungene Humoreske und ein Stück über Illusion und Wirklichkeit in der Nachbarschaft von Hollywood. Man stelle sich vor: Ein US-Magazin, das ein Interview mit Christa Wolf bringen will, schickt sie zu einem berühmten Fotografen, für den sonst all die Britneys und J-Los posieren. Von der deutschen Autorin dürfte er noch nie gehört haben. Als diese, von übereifrigen Make-up-Girls aufgedonnert, die ersten Ergebnisse sieht, begreift sie: „Jetzt muss ich streng werden. Also sage ich, streng: No. That’s not me. That’s a mask. – Okay, sagt Mathew. You don’t like it.“ Am Ende ist sie mit den Aufnahmen zwar zufrieden, das Interview aber erscheint nie – statt über ihre politischen Ansichten hätte sich der zuständige Redakteur mehr für ihr Privatleben interessiert.
Wie eine Entgegnung auf diese Neugier erscheint der ebenso anrührende wie humorvolle Text „Er und ich“. Er gibt, frei von jeder Peinlichkeit, einen ungeschützten Einblick in das seit mehr als fünf Jahrzehnte währende Wolf’sche Eheleben. Bei der Lektüre all der Rituale, Macken und Marotten, die dieses Zusammenleben zweier so verschiedener Temperamente ausmachen, begreift man: So vorbildlich das emanzipierte Rollenverständnis der beiden sein mag, Gerhard Wolf steht nur nach außen hin im Schatten seiner Frau.
Ganz nebenbei demonstriert Wolf manch jüngerem Kollegen, wie man, ohne das Wort je zu verwenden, über die Liebe schreiben kann – gäbe es in der Literatur Strafarbeiten, Roger Willemsen dürfte die nächsten zwei Jahre keinen anderen Text lesen. „Er und ich“ verrät aber auch, welches Ritual sich im Hause Wolf abspielt, wenn ein neues Buch der Autorin erscheint: Gerhard Wolf schnappt sich zuerst das vom Verlag geschickte Exemplar, um am Ende einer eingehenden Prüfung, Loben soll nicht seine Stärke sein, sein Urteil zu fällen: „Nicht schlecht“ oder: „Ist doch ganz gut geworden.“ Formulierungen, denen man sich getrost anschließen kann.
Christa Wolf: „Mit anderem Blick“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 192 S., 14,80 Euro