Analyse: Hü und hott
■ Bonn und die EU-Osterweiterung
Im Euroturm auf dem Luxemburger Kirchberg beginnt heute eine der denkwürdigen Veranstaltungen, an die sich die EU in nächster Zeit gewöhnen muß. Mit einer ausgefeilten Strategie wird die Bundesregierung die Osterweiterung anschieben und gleichzeitig bremsen. Damit sich die deutschen Stürmer und Verteidiger nicht gegenseitig niedergrätschen, treten sie auf unterschiedlichen Spielfeldern an.
Im Kreis der 15 EU-Außenminister wird Klaus Kinkel (FDP) das Anliegen der Bonner Koalition vorbringen, nun zügig die Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien in die EU vorzubereiten. Auf Vorschlag der EU-Kommission in Brüssel und auf besonderen Wunsch Italiens und der skandinavischen Länder gehören jedoch auch Slowenien und Estland zu den engeren Kandidaten. Griechenlands Schützling Zypern hat wegen seiner politischen Probleme wenig Chancen, wird aber auch in die Erweiterungspläne einbezogen, weil das nun einmal so versprochen ist. Ähnlich sieht es für Litauen, Lettland, Slowakei, Rumänien und Bulgarien aus.
Kinkels Aufgabe ist es nun, die Forderung einiger südlicher EU-Partner nach einem gleichzeitigen Verhandlungsstart mit allen 11 Beitrittsaspiranten entschlossen zurückzuweisen. Denn das würde den Aufnahmeprozeß zwangsläufig in die Länge ziehen, was den Verdacht nahelegt, daß Spanien oder Portugal bei ihrer Forderung vor allem ihre eigenen Finanzhilfen aus Brüssel im Auge haben, die durch den Beitritt der armen Ostverwandtschaft bedroht sind. Bonn möchte deshalb eine möglichst kleine Startgruppe, mit Polen, Ungarn und Tschechien als harten Kern.
Ein paar Türen weiter wird gleichzeitig der Bundesarbeitsminister (CDU) im Kreise seiner EU-Kollegen die Bedenken der Bonner Koalition gegen eine zu rasche Eingliederung dieser Länder vortragen. Norbert Blüm fürchtet die polnischen und tschechischen Arbeitskräfte, die den deutschen Markt überrumpeln könnten. Er verlangt, daß tschechische und polnische Arbeiter auch nach dem EU-Beitritt noch mindestens zehn Jahre auf die Freizügigkeit verzichten müssen. Blüm ist nicht der einzige deutsche Minister, der auf lange Übergangsfristen pocht. Auch Innenminister Manfred Kanther fürchtet sich vor allzu frei reisenden EU-Bürgern aus dem Osten. Landwirtschaftsminister Jochen Borchert schwört die EU-Kollegen längst darauf ein, daß sich die polnische und tschechische Landwirtschaft erst an das Agrarsystem der EU angleichen müsse, bevor über eine volle Eingliederung geredet werden könne. Sonst müßten ja die Garantiepreise für die EU-Bauern abgebaut werden.
Richtig spannend wird es deshalb im Dezember, wenn Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem EU-Gipfel in Luxemburg die Vorstellungen seiner Minister unter einen Hut bringen muß. Dann werden die 15 Staats- und Regierungschefs der EU entscheiden, mit welchen Ländern Verhandlungen aufgenommen werden. Wenn Kohl dann das überragende deutsche Interesse an einer raschen Osterweiterung vorträgt, dann wird er von einigen Präsidenten und Premiers sicher auch die Gegenargumente zu hören bekommen, die seine Minister derzeit in Luxemburg abliefern. Alois Berger
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