Analyse: Sieg der Langeweile
■ Die Regierungskoalition hat die Wahlen in den Niederlanden gewonnen
Der lila Deichfriede geht weiter: Die Große Koalition in den Niederlanden aus Sozialdemokraten (PvdA), Rechtsliberalen (VVD) und Linksliberalen (Demokraten 66) ist seit vorgestern noch größer. Die Sozialdemokraten unter Premier Wim Kok, der nahezu unangefochten in die Wahl gegangen war, bauten ihren Stimmanteil von 24 auf 29 Prozent aus; die VVD unter dem Rechtspopulisten und EU- Skeptiker Frits Bolkestein steigerte sich von 20 auf 24,7 Prozent. Lediglich die D 66, der es im Wahlkampf noch weniger als den anderen gelang, ein Profil zu entwickeln, verlor fast die Hälfte. Die Christdemokraten (CDA), die das Land bis 1994 unter der Ägide von Ruud Lubbers zwölf Jahre lang geleitet hatten, mußten das schlechteste Resultat ihrer Geschichte einstecken.
Die bemerkenswertesten Ergebnisse finden sich an den Rändern: Die rechtsextremen Centrumdemokraten verloren alle drei Sitze in der Zweiten Kammer und stehen damit vor dem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Und: Sowohl Grüne als auch die Sozialistische Partei verdoppelten ihren Anteil – auf 7,3 beziehungsweise 3,5 Prozent.
Der Wermutstropfen der Wahl: Lediglich 73 Prozent haben sie entschieden; der Rest blieb zu Hause. Verwundern kann das wenig – die Niederländer haben den langweiligsten Wahlkampf ihrer Geschichte hinter sich. Die seit vier Jahren amtierende „lila“ Regierung hatte sich auf eine Neuauflage festgelegt, und die Koalitionspartner gingen mehr als pfleglich miteinander um. Viele wußten angesichts der fast schon besorgniserregenden Harmonie, in der Sozialdemokraten und Liberale das Land reformieren, nicht, wen sie wählen sollten. Den Konservativen ist ein Bolkestein, der nur noch gelegentlich mit markigen Sprüchen auf sich aufmerksam macht, zu sozialdemokratisch; vielen Sozialdemokraten ist Kok, seit er die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung forciert hat, zu neoliberal.
Für die Wahlmüdigkeit gibt es aber noch einen Grund: Abgestimmt wurde über etwas, womit niemand wirklich zufrieden ist und für das sich doch keine Alternative bietet: Das „Poldermodell“ – die konzertierte Aktion von Staat, Industrie und Gewerkschaften für neue Arbeitsplätze. Rein statistisch hat es zu glänzenden Ergebnissen geführt: 500.000 Arbeitsplätze in vier Jahren, kaum Inflation, steigende Investitionen. Dennoch – und dafür steht der Zugewinn der Linken – knackt es im Gebälk der Konsensgesellschaft. Früher, klagen viele, waren die Niederlande eine Solidargemeinschaft unter der Obhut des Staates. Heute ist man auf dem besten Wege, zur Konkurrenzgesellschaft nach US-Vorbild zu werden. Oder, wie der Volkskrant es formuliert: „Der Konsument hat den Citoyen ersetzt.“ Jeannette Goddar
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