Analyse: Cillers neuer Coup
■ Der designierte Premier Erez verzichtet auf die Regierungsbildung
Die Femme fatale der türkischen Politik, Ex-Ministerpräsidentin Tansu Çiller, hat erneut einen Coup gelandet. Praktisch auf der Ziellinie hat sie gestern den designierten Ministerpräsidenten Yalim Erez geschickt noch einmal abgefangen und ihn dazu gebracht, sein Mandat zurückzugeben. Als Erez nur noch Details seiner zukünftigen Regierung regeln mußte, verkündete Çiller überraschend, ihre Partei sei bereit, eine Minderheitsregierung von Bülent Ecevit zu unterstützen. Ecevit war vor Erez von Präsident Demirel mit der Regierungsbildung beauftragt worden und letztlich an Çillers Weigerung gescheitert, eine Regierung unter seiner Führung zu unterstützen. Die Regierungskrise in der Türkei wurde vor 40 Tagen ausgelöst, als die Minderheitsregierung von Mesut Yilmaz über eine Korruptionsaffäre stürzte.
Für den plötzlichen Sinneswandel von Frau Çiller sind vor allem zwei Gründe ausschlaggebend. Erstens ist ihr Yalim Erez zutiefst verhaßt. Erez war einmal einer ihrer engsten Verbündeten innerhalb ihrer Partei des Rechten Weges (DYP). Weil Erez im Frühjahr 97 mit einer Reihe weiterer Abgeordneter die DYP verließ, stürzte die Koalition von Çiller mit Necmettin Erbakan. Erst der Schritt von Erez ermöglichte den „sanften Putsch“ im Frühjahr 97, durch den die Islamisten und mit ihnen Tansu Çiller auf Betreiben der Militärs von der Macht verdrängt wurden.
Rache ist aber nicht das einzige Motiv für Çiller. Aktuell mußte sie befürchten, daß eine von Erez gebildete Regierung die für April vorgesehenen Wahlen verschieben würde. Erez gilt erneut als Mann des Militärs und genießt als ehemaliger Präsident der türkischen Industrie- und Handelskammer das Vertrauen der Wirtschaft. Sowohl das Militär wie die Industrie hat kein Interesse an Neuwahlen, weil sie sich davon keine stabilen Verhältnisse versprechen und befürchten, die Islamisten könnten wieder stärkste Partei werden. Çiller will nun eine Minderheitsregierung, die nur von Ecevits Demokratischer Linkspartei (DSP) gebildet wird, unterstützen, weil eine solche Minderheitsregierung die Gewähr für die Wahlen im April bieten würde. Da auch der eigentliche Konkurrent von Çiller, Mesut Yilmaz, signalisiert hat, er würde eine Minderheitsregierung von Ecevit gegenüber einem Kabinett Erez vorziehen, ist es jetzt wieder die wahrscheinlichste Lösung, daß Ecevit nächster Ministerpräsident wird. In Ankara wird erwartet, daß Demirel ihm erneut den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Laut Verfassung haben die Parteien 45 Tage, jetzt also noch 3 Tage, Zeit, bis der Präsident eine Regierung ernennen kann, die das Parlament nicht mehr zu bestätigen braucht. Die zentrale Wahlkommission hat den Mechanismus für die Neuwahlen in Gang gesetzt und 21 Parteien zugelassen. Jürgen Gottschlich
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