Analyse der irakischen Sicherheitslage: Die Rückkehr des IS
Nach militärischen Niederlagen ist das „Kalifat“ sunnitischer Extremisten geschrumpft. Bagdad fehlt aber eine langfristige Anti-Terror-Strategie.
Istanbul taz | Keine Stadt der Welt hat in den letzten Jahren so sehr unter dem Terror von sunnitischen Fanatikern gelitten wie die irakische Hauptstadt Bagdad. Und doch stellt der Autobombenanschlag, den Extremisten in den Nacht auf Sonntag verübten, das Grauen der Vergangenheit in den Schatten.
Familien mit Kindern und Jugendliche füllten die Straßen, um die Nacht nach dem Fastenbrechen zu genießen oder das EM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Italien zu sehen, als ein Selbstmordattentäter seinen mit Sprengstoff bepackten Wagen im zentralen Stadtteil Karrada in die Luft sprengte.
Mehrere Gebäude gingen in Flammen auf, viele Opfer verbrannten bei lebendigem Leib. Mindestens 165 Menschen starben, die Nachrichtenagentur AFP sprach am Montag von mindestens 213 Toten. Es ist auf jeden Fall der schwerste Einzelanschlag, den Terroristen in den letzten dreizehn Jahren im Irak je verübten.
Der „Islamische Staat“ (IS) bekannte sich sofort zu dem Massaker. Damit wolle der IS beweisen, dass er weiterhin existiere, sagen irakische Politiker. Ähnlich tönt es von Amerikanern. Mit dem Terror – der IS hat bereits im Mai eine Serie von Bombenanschlägen verübt – wolle der IS die Gebietsverluste wettmachen. IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani formulierte es Ende Mai in einer Audiobotschaft so: „Wir werden weiter existieren, auch wenn uns nur die Wüste bleibt.“
Schwäche des irakischen Sicherheitsapparats
Als die Extremisten vor zwei Jahren das Kalifat ausriefen, traten sie an, um von Mossul und Rakka aus ihre Schreckensherrschaft in der ganzen Welt zu verbreiten. Doch sie mussten seitdem Niederlage um Niederlage einstecken. Im Irak verloren sie Tikrit und inzwischen fast die gesamte Provinz Anbar.
Auch im Nachbarland Syrien ist das Kalifat geschrumpft. Mit Falludscha verloren die Extremisten ihre letzte Hochburg westlich von Bagdad und zugleich die Stadt, die sie am längsten kontrolliert hatten. Damit hätten sie ihren Stützpunkt für den Bau von Autobomben verloren, sagte Ministerpräsident Haider al-Abadi Ende Juni.
Damit lag Abadi ganz offensichtlich nicht nur falsch, der Terror von Karrada offenbart auch eine eklatante Schwäche des irakischen Sicherheitsapparats. Obwohl es seit mehr als sieben Jahren bekannt ist, verwenden die Sicherheitskräfte bis heute Bombendetektoren, die auf Parfüm oder Zahnfüllungen reagieren, aber nur im Glücksfall auch auf Sprengstoff. An ihnen hat sich unter anderem die Wut der Menge entladen, die Abadi während eines Besuchs am Anschlagsort attackierte.
Abadi hat daraufhin angekündigt, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Aber das wird das Problem nicht lösen. Den irakischen Sicherheitskräften fehlt es an guter Geheimdienstaufklärung, die es braucht, um Bombenanschläge zu verhindern. Dazu wiederum brauchen sie Sunniten, denn nur aus ihrem Umfeld können die Informationen über die Fanatiker kommen. Doch das Innenministerium wird heute von einer mächtigen schiitischen Miliz mit engen Beziehungen zum Nachbarland Iran kontrolliert. Sie wird die gewonnene Macht nicht abgeben, auch wenn Abadi, selbst ein Schiit, das wollte.
Der IS kehrt zu seinen Wurzeln zurück
Am Montag kündigte Abadi die Hinrichtung von verurteilten IS-Terroristen an. Massenhinrichtungen waren freilich genau einer der Faktoren, die vor zwei Jahren zum Aufstieg des IS aus seiner Vorgängerorganisation beitrugen. So korrupt wie das Justizsystem im Irak ist, sahen viele Sunniten darin nichts anderes als Racheakte. Und daran hat sich nichts geändert.
Oft wird vergessen, dass der IS nicht erst seit 2014 existiert. Die Organisation hat im Irak eine mittlerweile 13-jährige Geschichte. Mit den Bombenanschlägen kehrt der IS in gewisser Weise zu seinen Wurzeln zurück. Die Amerikaner wurden dem Terror erst Herr, indem sie im großen Stil Sunniten rekrutierten, bezahlten und den Weg für ihre Einbindung in die politische Neuordnung des Irak ebneten.
Dass dies die größte Gefahr für sie ist, wissen die Fanatiker. Auch deshalb ermorden sie gezielt Sunniten, die sich auf die Seite der Schiiten oder Amerikaner schlagen. Und trotzdem ist eine Wiederauflage der amerikanischen Anti-Terror-Strategie von vor zehn Jahren heute nicht mehr möglich.
Die Schiiten wollen von den Sunniten eine Antwort darauf, warum sich Sunniten auf die Seite der Terroristen geschlagen haben, warum sie keinen Widerstand geleistet haben und warum viele zu den Verbrechen des IS an schiitischen Rekruten, Soldaten und Zivilisten geschwiegen haben.
Die Sunniten ihrerseits fordern Rechenschaft über die Verbrechen, die schiitische Milizen verübten. Der Hass, den der 2006 von den Amerikanern getötete Kopf der IS-Vorgängerorganisation säte, hat sich in den letzten zwei Jahren noch vertieft. Gleichzeitig drohen nach der Vertreibung des IS in den sunnitischen Gebieten Fehden zwischen Stämmen, die auf der jeweils gegnerischen Seite standen. Das alles verschafft den Extremisten den Raum und die Luft, die sie für ihr Unwesen brauchen. Der Irak ist noch lange von einem dauerhaften Frieden entfernt.