An der Grenze zwischen Syrien und Türkei: Jede Minute zählt
Der Krieg in Syrien hat längst die türkische Grenze erreicht. Krankenwagen dürfen nicht rüber, bei einem türkischen Arzt klingelt das Telefon im Minutentakt.
ANTAKYA taz | Es wird dunkel in Antakya, und in der Notrufzentrale bereiten sich die Sanitäter und Sanitäterinnen auf ihre nächste Nachtschicht vor. Seit Monaten schon sind die Helfer vom türkischen Roten Halbmond nachts oft im Dauereinsatz. Denn immer in der Nacht werden die Verletzten aus Syrien über die Grenze gebracht.
Längst ist der syrische Krieg auch im nördlichen Nachbarland in der beschaulichen Region um Antakya angekommen. Manchmal klingle das Telefon beinahe im Minutentakt, sagt ein türkischer Arzt. Jede Minute zählt.
Schussverletzungen, Splitterwunden und abgerissene Gliedmaßen seien die häufigsten Verletzungen. Und weil die Kämpfe im rund hundert Kilometer entfernten Aleppo eskalieren, werden es täglich mehr.
Über die Grenze fahren könnten die türkischen Rettungswagen nicht, erläutert der Arzt. Den Transport der Schwerverletzten bis zur rettenden Grenze organisieren syrische Freiwillige wie sein Kollege Hassan Naggar. Nur ein paar Tage wollte der pensionierte Unfallchirurg und Allgemeinmediziner aus dem schwäbischen Freiberg am Neckar bleiben, als er im vergangenen Jahr nach Antakya kam. Daraus sind mittlerweile fünfzehn Monate geworden.
Zuerst half er an einem Privatkrankenhaus aus. „Noch nie habe ich so schwere Verletzungen gesehen“, sagt Naggar. Schnell wurde der Bedarf so groß, dass er eine eigene kleine Klinik für die Nachbehandlung von Patienten aufmachte.
Krankenhäuser überlastet
Der wachsende Strom von Verwundeten aus dem Nachbarland belastet mittlerweile auch das türkische Gesundheitswesen. In den Intensivstationen gebe es oft keine Betten mehr, sagt ein Arzt. Die Behandlung in den türkischen Krankenhäusern ist für die Syrer kostenlos. Für die Nachbehandlung fehlen ihnen aber oft die finanziellen Mittel. Umso wichtiger sind freiwillige Helfer wie Naggar. Ärzte wie er, Krankenschwestern, aber auch Lehrer, Studenten oder Arbeiter sorgen mit ihren Einsätzen dafür, die Not der Kriegsversehrten zu lindern.
In Syrien wagen es Verwundete oftmals nicht, ein Krankenhaus aufzusuchen, aus Angst, sie könnten von Anhängern des Regimes festgenommen worden. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Regime systematische Folter und Morde an Ärzten und Pflegern vor. Das Regime habe die Jagd auf Verletzte und jene, die sie behandeln, im ganzen Land intensiviert, heißt es in einem im Juni veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. „Helden der Revolution“, nennt Naggar seine Kollegen in Syrien, die in behelfsmäßigen Feldlazaretten die Verwundeten notdürftig versorgen.
Kürzlich hat Naggar zweieinhalb Tonnen Medikamente über die Grenze geschickt, vor allem Verbandsmaterial, Schmerzmittel und Infusionen. Darüber hinaus hat er 80 faltbare Tragen anfertigen lassen und bildet Freiwillige in erster Hilfe aus. „Oft müssen Gliedmaßen amputiert werden, weil es auf dem Transport zu Infektionen kommt“, schildert Naggar eines der Probleme.
Spenden für Medikamente
In Antakya und selbst in den umliegenden Dörfern haben syrische Ärzte mittlerweile einige Dutzend kleiner Krankenstationen eingerichtet. Zudem betreiben sie Medikamentenlager, mit denen sie die Feldkliniken in Syrien versorgen. Finanziert werde die Hilfe ausschließlich aus privaten Spenden vor allem von wohlhabenden Syrern im Exil oder von reichen Geldgebern am Golf. „Staatliche Hilfe bekommen wir nicht einmal aus den Golfstaaten“, sagt Naggar.
Vor wenigen Tagen hat der Arzt seinen 78. Geburtstag gefeiert. Ans Aufhören denkt er trotzdem nicht. Mit Sorge blickt er nach Aleppo, wo er geboren wurde. Immer mehr Syrer flüchten vor den Kriegswirren in die Türkei. Nach jüngsten Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist die Zahl der Flüchtlinge inzwischen auf über 56.000 gestiegen. „Ich kann mich doch jetzt nicht zur Ruhe setzen“, sagt Naggar. „Meine Patienten brauchen mich.“
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