Amri Untersuchungsausschuss in Berlin: Fehlersuche geht weiter
Im Amri-Untersuchungsausschuss vermag sich Ex-CDU- Staatssekretär nicht zu erinnern. Sonderermittler Bruno Jost benennt die Schwachstellen deutlich.
Nein, er erinnere sich nicht, dass ihm der Name Anis Amri während seiner Amtszeit einmal auf den Tisch gekommen sei, sagte der frühere Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU). Es war das erste Mal, dass der Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz einen politisch Verantwortlichen der SPD-CDU-Vorgängerregierung anhörte. Bereits zur vorletzten Sitzung war Krömer geladen worden, hatte aber eine Krankschreibung geschickt. Zwei Tage danach war der 61-Jährige mit einer Zeit von 4 Stunden 37 Minuten den Berlin-Marathon gelaufen. Am Freitag erschien Krämer nun, der Output seiner rund vierstündigen Befragung war aber gleich null. Auch „aus gesundheitlichen Gründen“ seien ihm „viele Dinge nicht mehr so präsent“, erklärte Krömer seine Erinnerungslücken.
Bis zum 8. Dezember 2016 hatte Krömer, als zweiter Mann in der Senatsverwaltung für Inneres, die Aufsicht über Polizei und Verfassungsschutz inne. Dann übernahm Torsten Akmann, SPD-Innenstaatssekretär des neuen rot-rot-grünen Senats. Zehn Tage später, am 19. Dezember, steuerte Anis Amri einen geklauten Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen kamen ums Leben, an die 70 wurden schwer verletzt. Inzwischen steht fest, dass es reelle Chancen gegeben hätte, den Attentäter vorher aus dem Verkehr zu ziehen. Das Fazit, den Behörden seien „grobe Fehler“ unterlaufen, hatte der vom Senat eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost bereits im Oktober gezogen, als er seinen Abschlussbericht vorstellte (taz berichtete).
Bevor Krömer am vergangenen Freitag in den Zeugenstand trat, hatte Jost dem Ausschuss Rede und Antwort gestanden. Die Schwachstellen des Berliner Behördenhandelns im Fall Amri zeigte er in mehreren Punkten auf. Der 24-jährige Tunesier hatte in Deutschland 14 Alias-Identitäten. Allein beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) war er unter drei verschiedenen Namen erfasst gewesen, „ohne dass das auffiel“, so Jost. „Beim Lageso herrschte das blanke Chaos.“
Am 17. Februar 2016 wurde Amri, der seinerzeit zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin pendelte, als islamistischer Gefährder eingestuft. Als er tags darauf in Berlin eintraf, wurde er am Busbahnhof durchsucht, dabei wurde ein gestohlenes Handy sichergestellt. Das Bundeskriminalamt (BKA) spiegelte die Daten mit der Maßgabe, dass LKA Berlin solle die mehreren 1.000 Chats auswerten. Das unterblieb. Zur Begründung habe Polizeipräsident Klaus Kandt zu ihm, Jost, gesagt: Man habe kein zuständiges Gericht gefunden, dass die Beschlagnahmung der Daten hätte anordnen können. Dazu Jost: „Etwas merkwürdig.“
Nächster Punkt: Telefonüberwachung (TKÜ) und Observation durch das LKA Berlin. „Die rechte Hand wusste nicht, was die linke tat.“ Die Observation war bis zum 21. Oktober 2016 angeordnet, wurde aber schon am 15. Juni eingestellt. Warum? „Das ist mir bis heute nicht klar.“ Denkbare Gründe: Kapazitätsprobleme beim LKA und/oder, dass Amri ein zunehmend „unislamisches Verhalten“ an den Tage gelegt habe. Dennoch wurde zweimal eine Verlängerung der Observation beantragt, ohne sie dann durchzuführen. „Da fehlen mir die Worte“, so Jost. „Ich sehe da auch eine Mitverantwortung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin.“ Nächster Punkt: die TKÜ, die bis zum 21.Oktober fortdauerte und ergab, dass Amri zunehmend mit Drogen handelte. Dennoch wurde er nicht wieder observiert. Eine Festnahme bei der Übergabe von Kokain, das laut TKÜ an zwei Abenden hintereinander beim Amri bestellt worden sei, hätte auch nach Berliner Praxis für einen Haftbefehl gereicht, vermutete Jost.
Im Juli 2016 kam Amri in Ravensburg für zwei Tage in Abschiebegewahrsam, nachdem er bei einer versuchten Ausreise mit zwei Pässen erwischt wurde. Bis dahin war der Mann, der auf der Berliner Gefährderliste auf Platz 1 stand, untergetaucht gewesen. Trotzdem schickte das LKA Berlin niemanden nach Ravensburg, um ihn zu vernehmen. Dazu Jost: Man hätte wegen des Passvergehens einen Haftbefehl beantragen können.
An den Stellen, die noch nicht ausermittelt seien, werde der Untersuchungsausschuss nun in die Tiefe gehen, so der Vorsitzende Burkard Dregger (CDU) zur taz. Als Beispiel nannte er die Frage: „Wer hat entschieden, die Observation einzustellen?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour