American Pie: Dr. Seltsam und die blöde Ziege
BASEBALLNach 108 Jahren Erfolgslosigkeit sehen die Perspektiven der Chicago Cubs, die World Series zu gewinnen, bestens aus
Dieses Jahr soll die verdammte Ziege endlich beerdigt werden. Dieses Jahr wird es endlich nicht mehr heißen: Es gibt immer ein nächstes Jahr. Dieses Jahr, da sind sich Fans und Experten ausnahmsweise mal einig, sollten, müssen, werden die Chicago Cubs endlich mal wieder die World-Series gewinnen – nur 108 Jahre nach dem bislang letzten Mal.
Es gibt keinen Klub in den vier großen Ligen im US-amerikanischen Profisport, der schon so lange auf einen Meistertitel wartet wie der im Norden von Chicago beheimatete Baseball-Verein. Das erfolglose Jahrhundert war gepflastert mit peinlichen Ausrutschern, erbärmlich schlechten Mannschaften und absurden Verschwörungstheorien. Eine der beliebtesten: 1945 wurde einer Ziege namens Murphy der Zutritt zum Stadion verweigert – trotz gültiger Eintrittskarte. Andere Zuschauer hatten sich über den Gestank beschwert, aber der Besitzer der Ziege, ein Kneipenbesitzer, fluchte: „The Cubs ain’t gonna win no more.“
Er sollte Recht behalten. Ob der „Fluch der Ziege“ dafür verantwortlich war, sei dahin gestellt, aber die „Cubbies“ verloren und verloren. Das Stadion war aber trotzdem immer voll, weil Chicago seine „Loveable Losers“ ins Herz geschlossen hatte. Man hatte es sich wohlig eingerichtet im Verlieren.
Die Wende kam 2011 mit einem neuen Manager. Theo Epstein ist ein Spezialist für hoffnungslose Fälle. Zuvor hatte er die 86 Jahre andauernde World-Series-Flaute der Boston Red Sox beendet. Der sportliche Leiter, der geschätzte zehn Millionen Dollar pro Jahr verdient, führte moderne Methoden der Spieler-Evaluation ein und krempelte den Kader um. Das alles trug allerdings erst vergangene Saison, vor der Epstein mit Joe Maddon einen neuen Trainer verpflichtet hatte, Früchte: 2015 war erst im Playoff-Halbfinale Schluss.
Maddon gilt als denkbar unkonventioneller Vertreter seines Fachs. Er lässt T-Shirts mit Motivationssprüchen wie „Try Not To Suck“ beflocken oder lädt, um Niederlagenserien zu beenden, schon mal einen Zauberer in die Umkleidekabine ein. Das Aufwärmprogramm begleitet bisweilen ein engagierter Pantomime, und Spielern bleibt es selbst überlassen, das Training vor den nahezu täglichen Spielen ausfallen zu lassen. Dafür sollen die Profis zu Auswärtsfahrten in möglichst bunten und extravagant gemusterten Anzügen oder sogar Schlafoveralls antreten. Dass Maddon Spieler gelegentlich gegen alle sportliche Logik auf ungewohnten Positionen einsetzt, um die Eintönigkeit der langen Saison aufzubrechen, hat ihm den Titel „Dr. Strangelove des Baseball“ eingebracht. Pressekonferenzen lockert der 62-Jährige mit seinem trockenen Witz auf, dafür aber beantwortet er Fragen nach seinen Plänen schon mal mit einem Exkurs über den Vornamen Astrid. Wenn dann jemand nachfragt, ob das seine Frage beantworten solle, lächelt Maddon geheimnisvoll.
Aber der Erfolg gibt ihm Recht. 103 Spiele haben die Cubs in diesem Jahr gewonnen, so viele wie kein anderer Klub. Nun warten sie darauf, wer das für heute Nacht angesetzte Wild-Card-Spiel zwischen den New York Mets und den San Francisco Giants gewinnt. Der Sieger muss am Freitag zum Beginn der Best-of-Five-Viertelfinal-Serie im Wrigley Field antreten. Das Bier ist schon kalt gestellt, die liebenswerten Verlierer wollen endlich gewinnen, Murphy soll beerdigt werden. Thomas Winkler
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