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Ambulante Dienste schwer gefordertSOS bei Einzelfallhilfe

Experten betonen die Wichtigkeit ambulanter Sozial- und Pflegedienste in der Corona-Krise. Ohne sie könnten Krankenhäuser sonst überlaufen.

Absolut systemrelevant: Mitarbeiterin eines ambulanten Hamburger Pflegedienstes Foto: dpa

Die aufopferungsvolle Krankenschwester ist ein festes Bild in Krisenzeiten. Sie hält ganz Italien im Arm, auf den Balkonen wird wohl eher ihr applaudiert als der Streetworkerin. Trotzdem geht auch die Arbeit im ambulanten Bereich weiter. Aber wie?

„Die Arbeit hat sich schon sehr verändert“, sagt Sebastian Froese, stellvertretender Geschäftsführer vom Bundesverband ambulante Dienste in Essen. Es gebe bei den Diensten enormen Informationsbedarf, gerade auch, was unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern anlangt. Maßnahmen würden dabei nicht zeitgleich getroffen, auch kämen ständig neue Verordnungen heraus. „Das verunsichert manche unserer Mitglieder“, sagt Froese: „Gerade lernt man den Föderalismus nicht lieben in unserem Bereich.“

Insgesamt würden sich aber Kostenträger und Politik in einem Ausmaß auf die ambulante Pflege zu bewegen, das vor Corona „nicht für möglich gehalten wurde“. Die Kostensatzverhandlungen etwa ruhen aktuell, viele schnelle Lösungen sind gefunden. Zum Beispiel können Mehrkosten für Pflegemittel jetzt unbürokratisch abgerechnet werden. Zwei drängende Probleme aber werden nun immer akuter: Erstens die Engpässe im Material – Desinfektionsmittel ist Mangelware, Schutzkleidung sowieso.

„Viele Dienste sind auf mehr oder weniger zwei Monate bevorratet gewesen“, so Froese. Und da die Materialpreise schon seit Ende Januar steigen, gehen jetzt Vorräte zur Neige. Dass jetzt der Bund das Material besorge und die Länder es verteilten, sei grundsätzlich richtig. „Leider“, so Froese, „sehen wir aber auch vereinzelt Tendenzen, solche Materialien bevorzugt an stationäre Einrichtungen auszugeben.“ Das sei so unfair wie kurzsichtig: „Wenn die ambulanten Pflegedienste wegbrechen, werden die Krankenhäuser überlaufen.“

Und zweitens wird jetzt der Fachkräftemangel immer problematischer. Den aktuellen Klient*innenstamm könnten die Dienste im großen und ganzen versorgen. Doch schon vor der Corona-Krise hätten viele ambulante Dienste Anfragen ablehnen müssen. „Wer in der aktuellen Lage häusliche Pflege anfordern will, um sich zu entlasten, wird es noch schwerer haben,“ sagt Froese. Erhöhter Bedarf besteht: Unterstützung aus der Nachbarschaft bricht weg, Entlastungen wie Tagespflegeeinrichtungen entfallen.

Das Versorgungsnetz für viele Kinder und Jugendliche auf der Straße ist zusammengebrochen.

Friederike Siggelkow, Berliner Verein Strassenkinder e.V.

Ähnlich schildert das auch Friederike Siggelkow vom spendenbasierten Berliner Verein Strassenkinder e.V., wenn auch auf einem ganz anderen Gebiet: „Das Versorgungsnetz für viele Kinder und Jugendliche auf der Straße ist zusammengebrochen.“ Das Schnorren sei viel schwieriger, jetzt habe die Kältehilfe fast alle ihre Angebote eingestellt, und dadurch, dass Restaurants und Bars geschlossen haben, würden selbst elementarste Bedürfnisse wie ein Toilettengang drastisch erschwert. „Gleichzeitig sehen wir jetzt verstärkt Minderjährige auf der Straße, weil sie die Situation zu Hause nicht aushalten. Wir können davon ausgehen, dass es nach der Coronakrise mehr Straßenkinder geben wird als vorher.“

Auch, weil die integrative Arbeit der Straßensozialarbeiter*innen stark erschwert ist. „Wir haben einen beziehungsorientierten Ansatz, der ist gerade schwer umzusetzen“, sagt Siggelkow. Aktuell sei die Bildungsarbeit auf Telefon- und Videocalls umgestellt, man schicke auch unter anderem Lebensmittelpakete nach Hause. Gerade der Bedarf an Hausaufgabenhilfe sei sehr groß: „Jetzt merkt man soziale Ungleichheit noch stärker als sonst schon. Kinder, die keine Endgeräte haben, sind verloren.“

Misere ein Systemversagen

„Wir sehen jetzt die Probleme, die vorher schon da waren, nur noch akuter“, sagt auch Nicole Radu am Telefon. Ihren Klarnamen will sie nicht nennen, „arbeitsrechtlich zu riskant“. Radu ist Einzelfallhelferin in Berlin, sie unterstützt und begleitet Kinder mit Diagnosen im Alltag. „Einzelfallhilfe gilt als Nische, wir werden nicht unbedingt immer wahrgenommen.“

Radu ist ausgebildete Sozialpädagogin, keine Voraussetzung bei Einzelfallhelfer*innen. „Wir werden in der Regel schlechter bezahlt als die Familienhilfe“ – einer Hilfeform, die systemischer ausgerichtet ist. Dahinter verbirgt sich eine behindertenfeindliche, bürokratische Praxis: Bei Kindern mit medizinischen Diagnosen werden oft alle Probleme auf deren Behinderung zurückgeführt. Einzelfallhelfer*innen machen die Familienhilfe dann quasi nebenbei noch mit. „Das führt dazu, dass bei Multiproblemlagen die Einzelfallhilfen reihenweise verbrannt werden“, so Radu. Sie betreut gerade ein autoaggressives Kind mit sogenannter geistiger Behinderung, dessen Mutter alleinerziehend ist und nur wenig Deutsch spricht.

„Hier soll eine Einzelfallhelferin wie ich dann den Überblick bewahren. Das ist nicht leistbar.“ In der Konsequenz werden engagierte und interessierte Leute zerrieben und die Familie verliert das Vertrauen in die Hilfesysteme. Am Ende würde dann so ein Kind „Systemsprenger“ genannt werden. „Wie scheiße muss ein System sein, wenn es ein Achtjähriger gesprengt bekommt? Das ist ein Systemversagen, kein individuelles Problem.“

Um das zu sehen, müsse man auch aufhören, in althergebrachte Deutungsmuster zu verfallen. Dass sozial benachteiligte Familien jetzt besonders ein Gewaltproblem hätten, sei ihr zu oberflächlich, sagt Radu. „Gerade die sind es oft gewohnt, allein mit ihren Kindern zu sein, und außerdem fällt bei vielen von ihnen jetzt der ganze Ämterstress weg, die ganzen Hartz-Schikanen, denen sie sonst ausgesetzt sind.“

Fremdaggressiv

Über ihre politischen Forderungen will sie in der aktuellen Lage eher weniger reden. Es sei wichtig, jetzt durch die Krise zu kommen – danach müssten sich Ämter, Träger, Politik, Betroffene und Sozialarbeiter*innen zusammensetzen, um zu sehen, woran es hapert. „Aber wenn wir mittelfristig über Unterstützung von Sozialarbeiter*innen sprechen, dann ist Geld sicher ein Faktor.“

Ganz akut aber, so Radu, bräuchte es zwei Maßnahmen: höhere Flexibilität und größere Solidarität. „Jede Einrichtung kocht wohl ihr eigenes Süppchen. Das liegt auch daran, dass die Einzelfälle nicht genug gesehen werden. Man kuckt eher nach den Kostensätzen.“ Die Entscheidungsträger wüssten oft nicht, wo die Probleme der Klient*innen liegen – bei ihnen brauche es Wochen und Monate der Begleitung. „Aber auf die Einzelfallhelferin wird nicht gehört. Die kann sich jetzt von dem fremdaggressiven Klientenkind in den Arm beißen lassen, während die Entscheidungsträger'innen im Homeoffice sitzen.“

Insgesamt betrachtet, ist für einheitliche politische Forderungen der ambulante Bereich wahrscheinlich zu vielfältig. Das schwächte ihn schon vor Corona. Die Sozialgesetzbücher zusammenzuführen und Hilfe von den Klient*innen herzudenken – die Corona-Krise wäre ein Anlass, sich dieser Perspektive verstärkt zu widmen.

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