Ambivalente Frühlingsgefühle: Zwischen Frühlingstaumel und Freizeitstress
Kaum ist der Mai da, locken Sonne und Parks ins Freie – doch die schönste Zeit des Jahres ist herausfordernd. Müssen wir wirklich alles mitmachen?
N un steht er wieder vor der Tür, der liebe Monat Mai, auf den wir so lange gewartet haben! Und obwohl das Datum schon lange feststand, kommt er doch überraschend. Monate lange ging man durch das winterliche Grau, zählte die Tage und Wochen bis zum Frühling.
Und dann ist es plötzlich soweit! Mein berühmter Heimatbezirk Kreuzberg ist im Mai am allerschönsten. So lange hatte man auf die kahlen Bäume im trostlosen Hinterhof gestarrt – und jetzt ist alles grün und die Kastanienbäume tragen weiße Blütenkerzen.
Der Flieder blüht, der plattgewalzte Rasen in den Parks erholt sich, es wird von Tag zu Tag wärmer und alles strebt nach draußen.
Gleichzeitig ist der Mai der Monat der Überforderung. Schon am Tag der Arbeit könnte man sich in Berlin zwischen Dutzenden angemeldeter Kundgebungen entscheiden, könnte antikapitalistisch, gewerkschaftlich, revolutionär, verkehrspolitisch radfahrend, queer -feministisch, satirisch, ravend gegen einen Zaun demonstrieren. Oder sich ganz unpolitisch auf mehreren Stadtfesten vergnügen.
Und das Überangebot geht gerade so weiter! Schwimmbäder, Freiluftkinos, Biergärten eröffnen und auf einen Schlag soll man also, gerade eben mal von der Winterdepression in die Frühjahrsmüdigkeit gerutscht, letztere überwinden und outdoor-aktiv werden.
Aber zum Glück wird die Boomerin mit der Zeit ja immer gelassener und hat den ruhelosen Aktivismus und die drängenden fomo (fear of missing out)-Gefühle der Jugend und mittleren Jahre hinter sich gelassen.
Der Monat des stärksten Wachstums
Kann ich den Frühling auch wirklich genießen? Bin ich lange genug draußen, hätte ich nicht schon längst das Fahrrad flott machen müssen?
Hätte ich mich zu den anderen Tausenden jungen Müttern, alten Punks, Kleindealern, Freiberuflern und Langzeitarbeitslosen in den überbevölkerten Park gesellen müssen, die da stillen, chillen und grillen?
Müsste ich mich nicht wie die anderen ausziehen, ausstrecken, bräunen, Frisbee, Fußball, Federball, Hacky Sack, Akustikgitarre oder Diabolo spielen?
Guerillagärtnern? Muskeln ausdefinieren? Bälle jonglieren, Hunde rumkommandieren? Solche Fragen stellt sich der Mensch ab 50 nicht mehr. Die Kleingärtnerin ist sowieso nicht mehr auf öffentliche Parks angewiesen. Sie zieht es im Mai raus auf die Parzelle.
Denn der Mai ist in der Natur der Monat des stärksten Wachstums und auch im Garten passiert alles auf einmal und auch für die Kleingärtnerin ist der Mai der Monat der Überforderung.
Alles Mögliche könnte schon gepflanzt werden, wären die Beete vorbereitet. Das Gras steht hoch und wächst pro Tag 10 cm! Der Trend „No Mow May“ ( Zu Deutsch: Mähe den Rasen nicht im Mai und fördere damit die Artenvielfalt und schütze die Wildblumen) hat sich in der Kleingartenszene noch nicht so herumgesprochen.
Wer im Mai nicht mäht, wird von den „Gartenfreunden“ im Verein schief angeguckt und muss im Juni dann mit der Sense ran, weil der Rasenmäher bei hohem Gras den Geist aufgibt.
Zum Glück naht die nächste Kaltfront schon und verschafft uns eine kleine Schonfrist und ruhigere Maitage.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!