piwik no script img

Alternativer VerfassungsschutzberichtGrundrecht auf Datenschutz

Ex-Verfassungsrichter Hassemer feiert bei der Vorstellung des Grundrechtereports die Wiedergeburt des Datenschutzes und fragt: "Wie erleben Menschen Scham?"

Ex-Verfassungsrichter Hassemer freut sich über das gesellschaftliche Aufbegehren gegen Überwachung. Bild: dpa

KARLSRUHE taz | "Ich bin happy, weil ich mich geirrt habe", sagte Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer gestern in Karlsruhe. "Ich dachte, der Datenschutz sei tot, aber die Leute regen sich immer noch auf, wenn sie überwacht werden. Das ist wunderbar."

Hassemer, der bis 2008 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts war, stellte gestern den Grundrechtereport 2009 vor - ein Taschenbuch, das von Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben wird.

Hassemer bezog sich vor allem auf die Datenschutzskandale des letzten Jahres - Lidl, Telekom, Deutsche Bahn. "Die Skandalisierung solcher Übergriffe gelingt allerdings nur, solange wir glauben, dass die meisten Unternehmen sich korrekt verhalten", erläuterte der Frankfurter Rechtsprofessor, der in den 90er-Jahren auch hessischer Datenschutzbeauftragter war.

"Wenn jedoch alle den Datenschutz missachten, dann können wir nur noch nach Hause gehen und weinen", so Hassemer in seiner gewohnt prägnanten Sprache.

Hassemer räumte dabei auch einen zweiten Irrtum ein. "In den 80er-Jahren dachten wir, die gefährlichsten Eingriffe in den Datenschutz gehen vom Staat aus. Das war falsch", sagte der Ex-Verfassungshüter mit Blick auf die anlasslose Überwachung von Mitarbeitern in vielen Betrieben.

Zugleich zeigte sich Hassemer ratlos und forderte Grundlagenforschung. "Ich will wissen, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Was verstehen sie heute unter Privatheit, wie erleben sie Scham?" Erst dann könne man sinnvoll über den Hang vieler Menschen zur Selbstentblößung - im Internet, im Fernsehen oder beim Telefonieren im Zug - diskutieren.

An sich sei Datenschutz, so Hassemer, nämlich ein "sehr intimes Grundrecht, viel intimer als das Eigentum und fast so intim wie die Menschenwürde". Es gehe schließlich auch um privateste Informationen, "etwa um unsere ganz persönlichen Ängste und Hoffnungen".

Hassemer warnte gestern auch vor einer Aufweichung des Folterverbots. "Wenn Zeugenaussagen in ausländischen Gefängnissen unter Folter erzwungen wurden, dann muss ihre Verwendung in Deutschland strikt verboten sein", erklärte der Jurist.

Dies gelte nicht nur vor Gericht, sondern auch für die Polizei. Solche Aussagen dürften von den Ermittlern nicht einmal als Anlass für weitere Ermittlungen genutzt werden.

Praktisch sehr wichtig ist dabei die Frage: Wann muss ein Gericht davon ausgehen, dass ein Zeuge, dessen Aussage nur verlesen werden kann, zuvor gefoltert wurde? Die Bundesanwaltschaft will Aussagen nur dann nicht verwerten, wenn Folter bewiesen ist.

Hassemer will dagegen schon "belastbare Anzeichen für Folter" gelten lassen. Es könne allerdings nicht genügen, so der Jurist, dass die Verteidigung einfach so Foltervorwürfe erhebt. "Wir dürfen auch nicht naiv sein, sonst machen wir das Folterverbot selbst kaputt", betonte Hassemer.

Der Anwalt Till Müller-Heidelberg rügte gestern "die zunehmende Rechtsblindheit von Polizei und sogar Gerichten", die Karlsruher Vorgaben etwa für Wohnungsdurchsuchungen missachten.

Der Grundrechtereport wird von neun Organisationen, darunter der Humanistischen Union und der Neuen Richtervereinigung, herausgegeben. In diesem "alternativen Verfassungsschutzbericht" wird jährlich beschrieben, wie Staat und Unternehmen die Grundrechte gefährden und verletzen.

Hassemer nannte das im Buchhandel erhältliche Bändchen eine "segensreiche Erfindung". Der Report sei das "vielleicht wichtigste Instrument zur Vermittlung der Grundrechte in die Bevölkerung."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • F
    Felix

    In dieser Hinsicht ist unter www.datenschmutz.de das Anfrage-Formular sicherlich für einige Leute interessant!