Alternativer Karneval am Ende: Grüne feiern mit dem Feind
Die Aachener Strunxsitzung war der Gegenentwurf zum Herrenwitz-Karneval. Jetzt ist Schluss. Heute marschiert Özdemir mit dem Volk – und verkauft das als Sieg.
AACHEN/KÖLN taz | Doch, bei der Schlussnummer waren feuchte Schimmer in manchem Auge zu sehen und zusammengekniffene Lippen, auf der Bühne wie auch im Publikum. Freitagabend kurz vor Mitternacht: Nach 21 Jahren geht der erste der letzten sieben Termine der Aachener Strunxsitzung zu Ende, dem grün-alternativen, parodistischen Gegenentwurf zum Traditionskarneval.
Die Aachener Strunxler machen Schluss. Weil sie es sich nicht mehr antun wollen, monatelang vier Stunden Programm auf die Beine zu stellen neben Beruf und Familie. Weil sie auch älter geworden sind. Sie sagen: „Wir hören auf, solange es den Leuten noch richtig leid tut.“ Ein Stück Szenekultur endet. Der letzte Refrain im brodelnden Saal: „Wir waren jung, frech, alternativ – gegen den Karneval in seinem Mief.“ Dazu die Aufforderung: „Nehmt uns mit in euren Herzen, mit all unsren Scherzen.“
Wie anders der Abend eine Woche zuvor, der war so richtig zum Fremdschämen. Die selbst ernannten „Lackschuh-Karnevalisten“ vom schwer konservativen Aachener Karnevalsverein AKV feierten den ersten grünen und türkischstämmig-muslimischen Ordensritter wider den tierischen Ernst. Wow. Nur, dann sprachen sie alle den Namen des Geehrten treudeutsch falsch aus, ob Sitzungspräsident Werner Pfeil oder der heimische EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) als Laudator: Schämm hieß der Geehrte, als ginge es um eine Kaschämm, also eine Kneipe. Und hinten Ötzdemir, wie Ötzi, statt Ösdemir.
Tusch, tataaa. So geht hierzulande Multikulti. Und ständig drehten sich die Lobpreisungen darum, dass einer anders sein kann und trotzdem nett. Der grüne Parteichef Cem Özdemir hat den 63. Orden bekommen. Das Saalpublikum, das den bornierten Printen-Adel repräsentiert, hat den Mann mühsam lächelnd bestaunt wie vor hundert Jahren einen Freak im Zirkus. Viele von ihnen dürften noch nie im Leben Kontakt zu einem leibhaftigen Grünen gehabt haben.
Grüne Chamäleons
Und Cem Özdemir bedankte sich mit einer Rede von zotiger Peinlichkeit. Bei der Beschneidungsdebatte zuletzt habe er sich fast schon als Krimineller gefühlt. Tusch. „Oder um es fußballerisch zu sagen: Mit hängender Spitze kann ich nicht mehr spielen.“ Tuschtuschtusch. Der Saal tobt. Grüne können sich hervorragend anpassen.
Das gilt auch für die grünen Aachener Lokalpolitiker. Seit ihrer Existenz haben sie für den Herrenbund AKV nur Hohn, Spott und Ekel übrig. 2011 noch demonstrierte Bürgermeisterin Hilde Scheidt vor dem Sitzungssaal gegen die Ritterwürde für Karl-Theodor zu Guttenberg. Jetzt war sie eingeladen und fühlte sich sehr wohl. Andere grüne Ratsleute begleiteten sie. „Wo sonst nur auf Kosten der Grünen gelacht wurde, wollen sie jetzt selbst mitlachen“, attestierte die Lokalpresse. In Aachen haben die Grünen mit der CDU die Ratsmehrheit, da kommt es auf den tiefschwarzen AKV aus dem männerbündlerischen Vorgesterntum auch nicht mehr an. Total ejal.
„Total ejal“ ist auch das Motto der Strunxsitzung. Ensemble wie Publikum kommen aus dem 68er und 78er Milieu. Strunx wird von Aachener Kabarettisten gemacht, die im Brotberuf Architekt sind, Kantinenwirt im Stadttheater, Schulleiterin und ohnehin viele „Beschäftigte aus dem Rotstiftmilieu“, also LehrerInnen. Grüne Parteigänger hatten damals den Gegenkarneval ausgeheckt. Bis heute managen sie den Kartenverkauf, organisieren, basteln an der Show mit. Ein Unikum ist Spitzenpolitiker Reiner Priggen, seit heute 60 Jahre alt, der Aachener Fraktionschef der Landtagsgrünen, der Jahr um Jahr den Bühnenknecht gibt: Er räumt mit stoischer Ruhe die Requisiten auf und ab und sagt: „Strunx ist für mich wie Urlaub.“
Kondome statt Kamellen
1992, beim ersten Mal, war als Alternativ-Prinz „Seine Schwulität Jonathan I.“ mit Fistelstimme der Rathaustoilette entstiegen und hatte Kondome statt Kamellen geworfen. Welch Skandal in der Bischofsstadt: „Überkandideltes Coming-out“, schimpfte die Aachener Volkszeitung, ein empörter Leser verortete die „spießige Obszönität des Normalen“. Schnell wurde Strunx zur einzig bei Sinnen überlebbaren Karnevalsveranstaltung der Stadt.
In Köln, dem Epizentrum närrischen Brauchtums, geht Stunk, der große Bruder, ins 30. Jahr, wie immer vor 50.000 Zuschauern an knapp 50 Abenden, alles in 15 Minuten ausverkauft. 22 Leute, Schauspieler wie Musiker, arbeiten ein halbes Jahr für ihr Projekt. „Das Thema Älterwerden“, sagt der 53-jährige Stunker Winni Rau, „ist bei uns seit etwa zehn Jahren in der Diskussion“. Die meisten sind Mitte 50, zwei der Kabarettisten schon 60 plus. „Konsens war immer: Wir machen ein Programm für unsere Generation, und es gibt keinen Druck, jüngere Leute einzubauen.“ Also mache man weiter, „solange es gesundheitlich geht“. Indes: Dieses Jahr hatte einer vom Ensemble mitten in der Session eine Hüftoperation.
Vieles hat sich in Köln angeglichen. Anfangs galt Stunk als Anarchoveranstaltung. „Heute“, sagt Rau, „staunen wir immer neu, welche Ideen bei der Prinzenproklamation von uns geklaut sind.“ Und die ergrauten Alternativkarnevalisten lästern selbstironisch „über die jungen Leute vom Festkomitee“. Das Programm 2013 ist, wie immer, schön unverschämt, witzig, politisch, gemein. Der Kölner Erzbischof Joachim Meisner hat ausnahmsweise mal keine Einstweilige Verfügung angedroht, leider.
„Mehr erotische Nutzfläche“
Vor zehn Jahren gab es in Köln eine Nummer, in der die damals Fourty Somethings die Pflege ihrer Eltern thematisierten. Heute geht die erste Moderation ums eigene Älterwerden, dann tritt einer als Slapstik-Pflegeroboter auf – mit „Schmusemodus“. Beim Aachener Strunx treffen sich vier Betagte zum gemächlichen „Speed Dating Ü60“: Eine lebenslustige Dauerwellendame begeistert sich über die körperlichen Vorzüge im Seniorenalter: „Korpulente Männer haben mehr erotische Nutzfläche.“
Auch der Orden wider den tierischen Ernst allerdings hat sich verändert, nicht ganz freiwillig. In 63 Jahren wurden fast ausnahmslos Wirtschaftsführer gekürt und gesinnungsnahe Politiker wie zuletzt Stoiber, Merz, Rüttgers oder Westerwelle. 59 Geehrte seit 1950 waren Männer, gerade mal vier kamen aus der SPD.
Jetzt ein Grüner im Narrenkäfig, das war, zudem im Wahljahr, ungefähr so sensationell wie eine lesbische Päpstin. Indes ist aus dem WDR, der die Veranstaltung mit einer Zweistundenkonserve für das Erste finanziert, zu hören, dass es bei Özdemir viel Druck und Überzeugungsarbeit beim Aachener Karnevalsverein brauchte.
Der Orden für Özdemir war auch bei den Grünen und ihrem Umfeld umstritten. NRW-Fraktionschef Priggen hatte die Sitzungseinladung zurückgeschickt. „Die einen fanden es tatsächlich gut“, sagt Anita Groß, 64 Jahre alt, früher Parteisprecherin und Strunxlerin der ersten Stunde, „andere waren über den Auftritt entsetzt. Ich wäre da nie hingegangen.“
Fremdschämen für Özdemir
Die Zote mit der „hängenden Spitze“ fand sie „plump und grauenvoll“. Kopfschütteln: „Dass dieser tolle Mensch das nötig hat.“ Moderator Manni Hammers meinte: „Ketzerisch gesagt braucht es uns Strunxler ja jetzt wirklich nicht mehr, seit Rot-Grün beim AKV angekommen ist.“ Und fügte hinzu: „Wir von Strunx sind wohl auch etwas bürgerlicher geworden.“
Und Cem Özdemir? Auf die Frage, ob die Ritterwürde der Höhepunkt auf dem grünen Marsch durch die Institutionen sei, meinte er: „Ja, natürlich, erst Politik und Wirtschaft, und jetzt fällt die letzte Bastion, der Karneval.“ Wie der deplatzierte Schwabe inmitten der Garden mit viel Tschingderassabumm durch die Aachener Innenstadt geleitet wurde, wirkte das eher wie der Marsch in der Institution.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag