piwik no script img

Archiv-Artikel

Alternativen gäbe es, Herr Schröder!

betr.: „Opfer des Reformfiebers“ von Dierk Hirschel, taz vom 8. 7. 04

Mittlerweile scheint in der Öffentlichkeit endlich anzukommen, was es mit dem großen „Reformwerk“ im Bereich Gesundheit und Arbeitslosengeld II auf sich hat und welche Mythen dabei der Bevölkerung aufgetischt wurden, um es durchführen zu können. Bisher konnte eine breite Mittelschicht mit relativ gutem Einkommen immer noch so tun, als ginge sie das alles nicht wesentlich an, und natürlich können sie auf ein paar Euro Praxisgebühr bei ihrem Einkommen verzichten. Jetzt aber wird deutlich, was für ärmere Menschen schon länger klar und beängstigend ist: Statt mehr Binnennachfrage wird es deutliche Verarmung und Verelendung an der Basis geben, die häufig genug zu echter Not, Krankheit, Depressivität und Dissozialität bei gleichzeitigem Absterben von Hilfs- und Auffangprojekten aufgrund von Mittelkürzungen führen werden. […]

Und nun werden auch Mittelschichtgeborene und Kinder von Gutsituierten in größerer Menge arbeitslos trotz bester Ausbildungen und Abschlüsse, werden gedemütigt und müssen ggf. schlechtbezahlteste Arbeit annehmen, wie andere schon vor ihnen. Jetzt wird hoffentlich mehr Menschen klar, dass der Sozialabbau der Regierung nichts mit der angeblichen Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Arbeitslosen zu tun hat, sondern mit fehlenden Investitionen (privat und öffentlich) in Arbeitsplätze und mit Riesengewinnen der Unternehmen durch Lohndumping, Rationalisierung, Steuersenkungen etc. Das so hoch gepriesene „Reformwerk“ hätte kurzsichtiger, arroganter und einseitiger zu Lasten der Basis der Gesellschaft nicht gemacht werden können.

Und ob es Alternativen gäbe, Herr Schröder! Reformen ja, aber differenziert nach Einkommen. Praxisgebühr – wenn überhaupt – gestaffelt nach Einkommen und aufgehoben für Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Kleinstverdienende, Kleinstrentner usf. Eine großzügigere Regelung zum Zuverdienst, statt Reduzierung. Teilzeitjobs, von denen Menschen ihren notwendigen Lebensunterhalt noch bestreiten können, statt vor allem Frauen durch Minijobs zu erniedrigen und in die Abhängigkeit von Partnern zurückzukatapultieren. Öffentliche Investitionen in ökologische Projekte, die Arbeitsplätze schaffen und dem Staat wie uns allen nützen. Und vieles mehr … Mit dieser neuen Klassengesellschaft schreiten wir nicht ermutigt in die Zukunft, sondern fallen zurück ins 19. Jahrhundert! […]

Aber es ist ja durchaus nicht zu spät für Korrekturen. Viele kleine entlastende Schritte sind möglich und kosten auf jeden Fall weniger Geld als die falschen Wege, wie sie für Fachleute im Sozial- und Gesundheitsbereich jetzt schon absehbar sind. Solche Korrekturen könnten sogar Vertrauen in die Politik zurückgewinnen helfen – ein wichtiger Faktor in unserer Demokratie.

Ob Sie wohl „verstanden“ haben, Herr Schröder?

FRIDBURG THIELE, Berlin

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor.Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.