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Stimme meiner Generation

Alternative Therapie Kann Saufen helfen?

„Aron, du lallst ja!“ Aron und Ruth testen einen Weinratgeber, der alkoholische Unterstützung in schwierigen Lebenslagen verspricht. Ein Protokoll.

Im Buch 'Kork' setzten die Autor:innen auf Wein als Hilfsmittel im Alltag. Wir haben es ausprobiert. Foto: privat

Von Aron Boks und Ruth Fuentes

taz FUTURZWEI, 04.08.22 | Die meisten Ratgeberbücher versprechen Hilfe bei Problemen – aber nur gegen ein gesundes Verhalten, was dann unterm Strich einfach zusätzliche Anstrengung bedeutet. Aber wer hat da schon Bock drauf?

Umso besser, dass es Bücher wie „Kork“ von Sophia Fritz und Martin Bechler gibt. Ein Ratgeberroman mit Weinempfehlungen für verzwickte Lebenssituationen, in denen kein Health-Tipp hilft – wie etwa beim Tagesschau gucken oder wenn jemand sagt: „Ich liebe dich nicht“. Also haben meine Kollegin Ruth und ich beschlossen, die beiden Autor:innen um individuelle Problemweinempfehlungen zu bitten.

Stimme meiner Generation

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

Aron trinkt «Knypi» (Riesling) gegen Selbstmitleidsliebeskummer

„Hallo, Aron.“

„Hallo Sophia, ich brauch was gegen Selbstmitleidsliebeskummer.“

„Selbstmitleidsliebeskummer?“

„Also dieses Gefühl, wenn man total verliebt ist, aber nach einem Streit nicht so achtsam ist, um das Problem auszudiskutieren, sondern einfach für einen Moment in der Ecke sitzen will und …“

„Ich empfehle einen 2021er „Knypi“ trocken (weiß) und das Lied „Dreh dich nicht um“ von Gisbert zu Knyphausen!“

Tagsüber Weißwein trinken ist völlig in Ordnung, wenn man ihn aus einem Glas zu Tisch am Spreekanal trinkt und fröhlich aussieht. Ahh, denken die Passant:innen dann, der hat sicher was zu zu feiern. Seltsam finden sie es aber offenbar, wenn jemand wie ich auf einer Parkbank sitzt, eine Bluetooth–Box laufen lässt und aus der Flasche trinkt. Egal. Ein Glas würde mich daran erinnern, anstoßen zu müssen, aber ich bin ja aus besagten Gründen allein, und so langsam wäre es Zeit, dass Sophias Medizin wirkt.

„Wenn wir uns nicht mehr tragen können, warum lassen wir es dann nicht bleiben?“, singt diese wunderschön weinerliche Knyphausen Stimme. Und nach dem dritten Schluck ignoriere ich allmählich die besorgten Blicke der ach so glücklichen Fußgängerpaare hier. Wer in Berlin ein Problem damit hat, wenn etwas kaputt oder traurig aussieht, soll doch nach Potsdam ziehen, denke ich. Dieser Wein war ein guter Tipp von Sophia. Mir fällt ein, dass sie mal ein emotional sabbatical gemacht – und ein Buch über Gott geschrieben hat. Ich vertraue ihr allein dadurch mehr als jedem Typ, der seinen Doktortitel auf ein Buchcover klatschen muss, um eine zuckerfreie Ernährung als Schlüssel zum Glück zu propagieren.

Trag dieses Lachen bei dir, wenn du gehst

Ich mag es sehr

Mann, ist das schön. Wieso habe ich bisher eigentlich immer Rotwein statt Weißwein getrunken? Dieser „Knypi“ Riesling pusht im Gegensatz zu jedem existenzialistischen Tempranillo jeden Einfall ein Stück vorwärts, wie ein Freund, den man sich wünscht, wenn man laut darüber nachdenkt, bei Liebeskummer einfach seinen Job zu kündigen und sich nach Kroatien abzusetzen. Das wär doch was!

Nimm die Erinnerung mit dir, wenn du gehst

Sonst bleibt sie stumm

Mir fällt ein, dass ich Sophia gar nicht gefragt hatte, wieviel man trinken müsste, damit die Heilung einsetzt.

Nimm die Erinnerung mit dir, wenn du gehst

Und dreh dich nicht um

Dieser Song ist eigentlich total traurig. Ich will doch gar nicht, dass hier irgendwas vorbei ist! Und, bitte, was soll ich eigentlich in Kroatien? Dazu dieser Weißwein, der zu allem JA! sagt. Aber wenn man diesem Prinzip vertraut hat und ihn in einer halben Stunde restlos ausgetrunken hat, lässt er einen dumpf denkend mit Schwindel zurück. Und der Song hat dann auch keinen Ratschlag mehr parat, außer beim zehnten Durchlauf: „Der Regen kommt und der Regen geeeht“ zu plärren.

Ruth trinkt «Das letzte Kommando» (Rotweincuvée) gegen Therapeutenurlaub

„Hallo Ruth.“

„Hey Sophia, mein Therapeut ist gerade im Urlaub, aber mein Leben überfordert mich grad echt. Kannst du mir ein Wein empfehlen?", tippe ich. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten:

„Da würde ich den 2019er „Das Letzte Kommando“ (rot) von Martin nehmen. Und als Grundlage die mood seines Songs „Hooray Hooray“.“ Genau jetzt musste er in den Urlaub. Er hat nämlich ein Kind, mein Therapeut, und das hat jetzt Sommerferien. Und was ist mit mir? Gerade jetzt im Sommer, wo so viel auf einmal passiert. Was ist mit meinen Issues? Meinen Bindungsängsten? Meinen Eltern? Der Auswirkung meiner Kindheit auf die Gegenwart? Was ist damit?

„Wir sehen uns dann Ende August“, hatte er gesagt und „Passen Sie auf sich auf“. Der hat leicht reden. Seitdem führe ich die Gespräche mit ihm in meinem Kopf, aber so richtig weiter hilft das nicht. Weil ich mir ja schließlich selbst antworte. Vielleicht hilft ja der Wein. Und Martins Indie-Pop-Ballade. Er hat mit Mitte vierzig entschieden, mit Fortuna Ehrenfeld durchzustarten. Auf so jemanden muss ich jetzt hören: auf einen Lebemann, der gern schön-traurige Lieder singt. Und mit seiner Band seinen eigenen Rotwein cuvéetiert, heißt: abfüllt.

Also sag mir was soll ich jetzt tun? Ich hab so Angst vor meinen Gedanken

Und dass mal einer von denen eskaliert

Buchempfehlung

KORK

Roman von Sophia Fritz und Martin Bechler

Verlag: Kanon

23 Euro

ISBN: 9783985680177

Ich muss gleich noch einen Schluck „Letztes Kommando“ nehmen. Rotwein hilft ja bekanntlich immer gegen Tränen, oder war es andersherum?

Im Zweifel für die Liebe

und gegen die Konzentration

Sehr guter Rat, Martin. Sehr guter, Rat. Und nun? Sitze ich irgendwo im Görli und Martins Rotweincuvée aus der Pfalz von 2019 fließt direkt durch die Flasche in meine Kehle. Etwas zu schnell vielleicht.

Aron ruft mich an.

„Ruth, das mit dem Wein funktioniert nicht!“

„So?“

„Ja – ich habe es versucht. Die ganze Flasche habe ich getrunken und dann noch mehr geweint als vorher.“

„Ja, das …“

„Warte! Jetzt kommt das Ding! Dann habe ich Sophia angerufen und ihr von meinem Versuch erzählt … Und weißt du, was sie mich dann allen Ernstes gefragt hat?“

„Was denn?“

„Ob ich das Buch nicht gelesen hätte, hat sie mich gefragt. Und dass Probleme angeblich natürlich nicht besser würden, wenn man versucht, sie mit Riesling wegzuspülen, hat sie gesagt. Bla bla bla … Was für ein Scheiß!“

„Aron, du lallst ja total!“

„Du doch auch!“

Er legt auf.

Ich trinke nur noch aus Protest gegen mich selbst und gegen die Welt, singt Martin.

Und vielleicht geht es ja genau um das und um nicht weniger.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.