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■ Tschetschenien: Zum zweiten Mal in fünf Jahren wird die junge Generation Russlands in einen Krieg geschickt, der nicht zu gewinnen ist. Wegen der Anschläge in Moskau ist er jetzt sogar populär  Aus Moskau Barbara KerneckAlter Krieg in neuen Kleidern

Die mörderischen Luftbombardements hatten keinen militärischen Wert und bestärkten den Verdacht, dass es um eine ethnische Säuberung ging

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“, lautet eine bekannte indische Weisheit . Die russische Armee hat es aber geschafft, innerhalb von fünf Jahren zweimal denselben tschetschenischen Fluss, den Terek, zu überqueren. Immerhin aber haben die Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Taktik inzwischen von der Nato ein paar Lektionen gelernt: Sie gehen langsamer vor, sie nutzen ausgiebig die Möglichkeiten der russischen Luftwaffe, gebessert hat sich die Stimmung bei den Offizieren, die plötzlich den in Russland unvorstellbar hohen Lohn von 60 Mark pro Tag erhalten. Den krassesten Bruch mit eigenen Traditionen bedeutet aber das laut verkündete Programm, man wolle auf keinen Fall einen unnötigen Verlust von Soldaten in Kauf nehmen.

Was aber die jungen Rekruten betrifft, so entscheidet über die wichtigsten Verluste unter ihnen nicht der Kriegseinsatz. Da ihre Vorgesetzten auch die letzten Lebensmittelvorräte noch klauen, kommen sie meist bereits unterernährt an die Front. Und wenn sie sich nicht schon vorher, während des Wehrdienstes, irreparable Gesundheitsschäden zugezogen haben, dann ziehen sie sich spätestens hier alle nur erdenklichen Dysfunktionen aller möglichen Organe zu.

Die Lernfähigkeit der Generäle beschränkt sich nur auf bessere Öffentlichkeitsarbeit und Taktik. Denn in Tschetschenien treffen wieder hungrige russische Soldaten – die nicht nur bereitwillig ihre Handfeuerwaffen verkaufen, sondern sogar den Sprengstoff aus den Bomben – auf gut trainierte tschetschenische Berufskrieger.

Zu lange hat Moskau die Probleme im Nordkaukasus eher gefördert als zu ihrer Lösung beigetragen. Die Destabilisierung derKaukasusrepubliken wurde sogar als nützlich empfunden. Denn auf diese Weise, hofften Generäle und Politiker, könne man sie sich am besten für die eigenen Machtinteressen nutzbar machen.

Wer sich heute in Dagestan umhört, weshalb es den Gefolgsleuten des tscheteschinische Rebellenführer Schamil Bassajew drei Jahre lang möglich war, dort Bunker, Gräben und sonstige Betonbefestigungen zu errichten, der bekommt die Antwort, dass Moskauer Finanzmagnaten ihre Finger im Spiel hatten. Die Korruption in Moskau und die desolate Lage des kleinen Landes Tschetschenien sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Alles spricht dafür, dass die russische Armee im Kaukasus auch diesen Krieg nicht gewinnen kann. Voraussetzung wäre, dass diesmal in den besetzten Gebieten weder Hass noch Plünderei, noch Mord regierten. Den letzten Feldzug haben die Russen vor allem deshalb verloren, weil sie ihn mit krimineller Wildheit führten. Die mörderischen Luftbombardements hatten keinen wirklichen militärischen Wert und bestärkten den Verdacht, dass es sich hier um eine ethnische Säuberung handelte. Die russische Armee war vor allen Dingen für Vergewaltigungen, Morde und Plünderungen in den besetzten Gebieten berühmt. Wenn die Militärs und in erster Linie auch die politische Führung des Landes aus alledem keine Lehren ziehen, so kann der neu begonnene Krieg in Tschetschenien mit allem anderen enden als mit der Zerschlagung der Partisaneneinheiten und sogar mit etwas noch viel Schlimmerem als lang hingezogenen Kämpfen in den Bergen: Mit einer Niederlage, deren Folge nicht nur die Diskreditierung der russischen Staatsmacht sein wird, sondern auch die Abtrennung des Nordkaukasus von der Russischen Föderation.

Vor dem Hintergrund von Angst und Schrecken angesichts der Bombenanschläge auf Wohnhäuser in russischen Großstädten, die von Tschetschenen verübt worden sein sollen, ist die Beliebtheitskurve des kaltschnäuzigen russischen Premiers und Präsidentschaftskandidaten Wladimir Putin in kürzester Zeit von zwei auf sieben Prozent gestiegen. Putin weiß allerdings selbst sehr genau, dass sein Aufstieg und sein Fall sich analog zu den militärischen Erfolgen im Kaukasus verhalten werden. Gestern besuchte er die Militärbasis in Inguschetien, Tschetscheniens Nachbar, und legte erstmals Zeichen emotionaler Bewegtheit an den Tag. Putin ließ sich im Simulator eines Luftwaffenbombers umherschütteln und sagte hinterher, er habe „starke Empfindungen“ verspürt.

Die gutmütigen Piloten rieten ihm, sich nächstes Mal in das Versuchsgelände Baikonur, nach Kasachstan, zu begeben, wo immer noch die russischen Astronauten in den Weltraum geschossen werden: „Dort garantieren wir ihnen noch stärkere Empfindungen.“

Experten sind sich derweil einig: Der Ausbruch des vorigen Tschetschenienkrieges Mitte der 90er-Jahre hatte vor allen Dingen einen Zweck: Er half der Heeresgruppe West, nach ihrem Abzug aus Deutschland alle von ihr dort verursachten materiellen Verluste auf das Konto eines neuen Krieges abzuschreiben. Und auch wenn der Nationalismus in diesen Zeiten des Krieges wieder hohe Wellen schlägt, so bezweifelt dennoch heute kein russischer Bürger mehr, dass es auch jetzt im Grunde wieder nur um das Vertuschen von Korruption geht. Diesmal geht es nämlich um den Machterhalt des Präsidenten selbst und seine im Volksmund unter dem Namen „Familie“ zusammengefassten nächsten Gefolgsleute. In ihrem Namen werden diesmal tausende oder auch hunderttausende sterben.

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