Altenpflege-Skandal in Frankreich: Sparen hinter der Luxusfassade
Ein Buch deckt auf, wie Frankreichs größtes Unternehmen in der Altenpflege maximale Profite erzwingen wollte. Das ist nun auch Wahlkampfthema.
Hinter der attraktiven Fassade am Seine-Ufer aber war nicht alles zum Vorzeigen. Der Journalist Victor Castanet hat nach Hinweisen ehemaliger Beschäftigter drei Jahre lang recherchiert – und was dabei herauskam, hat seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Sein Buch „Les Fossoyeurs“ („Die Totengräber“) aus dem Verlag Fayard hat in Frankreich einen nachhaltigen Skandal ausgelöst, der auch im derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf seine Wellen schlägt.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Frankreich und auch anderswo unhaltbare Zustände in einem Altenheim öffentlich angeprangert werden. In diesem Fall aber enthüllt das Buch ein gesamtes Geschäftsmodell, das laut Autor „systematisch“ darauf abzielt, mit pingeligen Einsparungen inklusive der „Rationierung“ von Seniorenwindeln pro Tag und Person die Rentabilität zu steigern.
Die Profitmaximierung sei von dem Firmengründer Jean-Claude Marian zur Devise erhoben worden. Das Geschäft mit den Alten müsse Gewinn „ausspucken“, habe Marian auf Sitzungen jeweils verlangt, sagen Insider. Marian ist nach dem Verkauf seines restlichen Kapitalanteils für angeblich rund 770 Millionen Euro nur noch Ehrenpräsident von Orpéa.
Mehr als 200 Personen bezeugten Missstände
Es wurde nicht nur am Material oder selbst am Essen gespart, sondern auch an der Besetzung, sagt Camille Lamarche, die als Juristin in der Personalabteilung der Unternehmensführung tätig war. Auch mehrere Sprecher*innen von Gewerkschaften bestätigen, wie der Stellenmangel und die Beschäftigung von unqualifizierten Leuten mit prekären Verträgen zur Verschlechterung der Lebensbedingungen führten.
Ausgehend von Missständen im Seniorenzentrum von Neuilly, sammelte Castanet in Gesprächen mit mehr als 200 Personen Informationen und Dokumente, um seine Vorwürfe gegen die französische Gruppe zu untermauern. Besonders schwerwiegend und womöglich Gegenstand von Strafuntersuchungen ist die Enthüllung von Buchhaltungstricks, mit denen Orpéa laut Castanets Zeugen von zahlreichen Lieferfirmen bei der Fakturierung „Rückkommissionen“ verlangt und bekommen habe.
Orpéa dementiert alles kategorisch. Doch nach dem Erscheinen des Enthüllungsbuchs am Montag wurde Yves Le Masne nach immerhin 28 Jahren als Orpéa-Generaldirektor abgelöst. Es herrschte Handlungsbedarf: Innerhalb von drei Tagen war wegen des Skandals der Börsenkurs der Gesellschaft vorübergehend um 38 Prozent gesunken.
Le Masne, der im Voraus informiert war, hatte seine Aktien kurz vor dem Erscheinen des Buchs abgestoßen, um seine Millionen in Sicherheit zu bringen. Sein Ex-Boss Marian gehört zu den 500 reichsten Franzosen.
Präsident hatte große Reform versprochen
Die Regierung muss nun befürchten, dass ein Schatten des Skandals auf sie zurückfällt. Denn letztlich wird deutlich, dass die Kontrollen in den privatwirtschaftlich betriebenen Altersheimen durch die zuständigen staatlichen Behörden völlig ungenügend waren.
Die Vizeministerin für die Senioren, Brigitte Bourguignon, erklärte, sie sei empört wegen der „puren Heuchelei“ der Orpéa-Führung. Es gelte „streng“ zu sein, um zu zeigen, dass man „in diesem Land nicht tun und lassen kann, was man will“, sagte sie und kündigte eine administrative Untersuchung sowie eine Finanzkontrolle der Gruppe an. Die attackierte Unternehmensleitung hat ihrerseits zwei unabhängige Firmen mit der Überprüfung der Fakten beauftragt.
Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen wird die Seniorenpflege unweigerlich zu einem Wahlkampfthema. Staatspräsident Emmanuel Macron wird an sein Versprechen von 2017 erinnert. Er kündigte damals eine „große Reform“ zur Unterstützung der Pflegebedürftigen samt Investitionen von 10 Milliarden Euro an, die dann – wegen anderer Prioritäten während der Pandemie – auf der Liste unerledigter Aufgaben liegen blieb.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen