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Archiv-Artikel

„Alte übernehmen Pflege selbst“

Der Dortmunder Altersforscher Frerichs findet die Vorstellung einer alternden Gesellschaft nicht bedrohlich, weil Menschen über 60 durchaus noch kreativ sein können

taz: Herr Frerichs, angeblich tobt ein „Krieg der Generationen“. Der Vorwurf: Immer mehr Alte machten sich ein schönes Leben auf Teneriffa oder mit neuen Hüftgelenken. Gleichzeitig müssten die Jungen schuften und immer mehr Rentenbeiträge zahlen. Stimmt das Szenario?

Frerich Frerichs: Überhaupt nicht. Es ist eher umgekehrt: Die Älteren unterstützen ihre Kinder und Enkel finanziell sehr stark. Diese emotionale Nähe zeigt sich auch räumlich; die Familienforschung hat herausgefunden, dass die meisten erwachsenen Kinder nicht weit entfernt von ihren Eltern leben und mindestens einmal in der Woche anrufen.

Aber eine sehr gängige Sorge lautet: Wer soll 2030 noch die Rollstühle schieben, wenn etwa ein Drittel der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt ist?

Seien Sie beruhigt: Es wird sie jemand schieben. Denn die Leute sitzen ja nicht mit 60 im Rollstuhl, sondern erst mit weit über 80.

Davon gibt es dann aber auch deutlich mehr.

Das ist eine Herausforderung, aber keine Katastrophe. Wir geraten nicht zwangsläufig in eine „Pflegelücke“. Allerdings muss der Pflegeberuf attraktiver werden. Bessere Bezahlung, mehr Aufstiegschancen, mehr Zeit für die Patienten.

Wer soll das bezahlen? Das ist doch die Sorge der Jungen.

Die Alten werden einen großen Teil der Pflege selbst übernehmen. 60-Jährige werden sich um 100-Jährige kümmern.

Selbst wenn die Pflege gar nicht so viel teurer wird: Die Zahl der Rentner steigt dramatisch, die die Jungen finanzieren müssen.

Es gibt Verteilungsfragen, so viel stimmt. Aber die Konflikte verlaufen nicht zwischen Alt und Jung, sondern zwischen Arm und Reich. Die Wirtschaft wird ja weiter wachsen – gleichzeitig nimmt die Bevölkerung ab. Das Pro-Kopf-Einkommen dürfte also deutlich zunehmen. Das neue Thema „Generationengerechtigkeit“ soll nur maskieren, dass die soziale Gerechtigkeit fehlt.

Aber hat eine alternde Gesellschaft Zukunft? Wer soll 2030 noch innovativ werden, wenn es hierzulande kaum noch Jugendliche gibt?

Ich finde die Annahme merkwürdig, dass man nicht mehr kreativ sein kann, sobald man über 60 ist. Wenn die Jungen diesen Verdacht heute äußern, dann sagen sie ja nur von sich selbst, dass sie in dreißig Jahren eingefahren sind.

Frönen die Deutschen also nur einer ihrer angeblichen Haupteigenschaften – sich Sorgen zu machen, wo gar keine Probleme sind?

Ich jedenfalls kann eine alternde Gesellschaft nicht bedrohlich finden. Wahrscheinlich bin ich deswegen Gerontologe geworden.INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN