Alltagsdroge Kat im Jemen: Wie Armut Armut schafft
Wasser ist Mangelware und Weizen knapp. Die Bauern im Jemen pflanzen aber bevorzugt Kat an. Das ist einträglich, aber politisch kurzsichtig.
Bauer Hamid Raschid hat seinen Acker verlegt. Hat guten Mutterboden in ein karges Tälchen transportieren lassen und ihn dort auf einem Stück terrassierten Landes ausgebracht. Billig war diese Aktion nicht, aber der Bauer kann rechnen. Auf seinem neuen Acker hat er Kat angebaut. Damit verdient er bis zu fünfzehn Mal so viel wie mit Getreide. Jetzt steht er auf seinem Feld in einem Seitental des Amranbeckens nördlich von Sanaa und begutachtet hoffnungsfroh die grünen Pflänzchen. Auf seinen fruchtbaren Äckern im Amranbecken, wo auch mal Regen fällt, baut er weiterhin Weizen an - aber nur für die eigene Familie: zwölf Erwachsene und acht Kinder. "Weizen ist viel zu kostbar, um ihn zu verkaufen", sagt der Bauer.
Im Vergleich zu Weizen ist das leichte Rauschmittel Kat ein dankbares Gewächs. Es wächst in Höhenlagen, wo sonst nichts gedeiht, kann Dürre und Kälte vertragen, und wenn es Wasser bekommt, treiben innerhalb von zwei, drei Wochen zarte grüne Triebe, die sofort dankbare Käufer finden. Deshalb pflanzen immer mehr Bauern im Nordjemen Kat an statt Weizen.
Eine Alltagsdroge
Einwohnerzahl: 23 Millionen, Tendenz: rasch steigend.
Wirtschaftliche Lage: Der Jemen ist das ärmste arabische Land überhaupt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt in absoluter Armut. Rund 70 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Erdölexport, doch die Erdölvorkommen werden in etwa zehn Jahren erschöpft sein. Da ein Großteil der Lebensmittel - wie fast alles andere - importiert wird, steigt das Handelsbilanzdefizit kontinuierlich.
Nord-Süd-Konflikt: Im Norden schwelt ein Konflikt mit den Huthi-Rebellen, die einer schiitischen Sekte angehören. Der Süden, 1990 mit dem Norden vereinigt, will sich wieder abtrennen. Der Grund: die Marginalisierung des Südens durch die Regierung im nordjemenitischen Sanaa. Da sich 80 Prozent der Erdölvorkommen im Süden befinden, wird die Regierung eine Sezession notfalls mit Gewalt verhindern.
Al-Qaida: Die Islamisten der arabischen Halbinsel nutzen den zunehmenden Staatszerfall des Jemens zu immer häufigeren Angriffen auf Touristen, Ölquellen oder Regierungsmitglieder.
Überall in diesen Seitentälern liegen Katplantagen: buschige Bäume, von einem Schutzwall aus Lehm umgeben, an einer Ecke ein Wachturm. Männer stehen auf schwindelnd hohen Holzleitern in den Baumwipfeln und pflücken die jungen Triebe. An größeren Straßenkreuzungen bieten Kathändler ihre grünen Büschel feil. Hier im konservativen Norden hat jeder Mann noch die Dschambijja, den traditionellen Krummdolch, im Gürtel stecken. Vom Griff der Dschambijja vieler Bauern baumelt eine Plastiktüte mit Katblättern, aus der sie sich regelmäßig bedienen.
Die Käufer beginnen hingegen erst nachmittags Kat zu kauen, denn die Blätter sind teuer. Im Jemen wandert durchschnittlich ein Zehntel der ohnehin kleinen Haushaltseinkommen in den Katkonsum. Viele Jemeniten verschulden sich, um Kat zu kaufen.
Auch aus anderen Gründen ist der Katanbau problematisch. Zum einen bauen Katbauern wie Hamid Raschid Weizen nur noch für den Eigenverbrauch an. Der Jemen muss aber schon jetzt drei Viertel seiner Nahrungsmittel einführen; außerdem verbrauchen die Bauern kostbares Grundwasser für den Katanbau. Grundwasser, das zur Neige geht, im wahrsten Sinne des Wortes. "In etwa fünfzehn Jahren wird es im Amranbecken und in Sanaa kein Wasser mehr geben", prophezeit Thomas Engelhardt, Büroleiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Sanaa. "Dann wird die Mehrheit der Bevölkerung wegziehen müssen, ins Küstengebiet."
Ein Land, das zur Hälfte evakuiert werden muss, einschließlich der Hauptstadt? In dieser Einschätzung sind sich die internationalen Organisationen einig. Schon jetzt sinkt der Grundwasserspiegel im Nordjemen jährlich um fünf bis acht Meter. Die GTZ, die ein Projekt namens "Wasserressourcen-Management" betreibt, versucht deshalb, bei der jemenitischen Regierung auf Maßnahmen zu dringen, die die Gnadenfrist verlängern. Eine Reduzierung des Katanbaus zum Beispiel. Schon jetzt ist es verboten, neue Brunnen für den Katanbau zu bohren. Doch es mangelt an Kontrolle.
Auf einem Feld nahe der Landstraße nördlich von Sanaa steht ein kleiner Bohrturm; er wird von einem Lkw aus betrieben. Hier wird nach Wasser für Katanbau gebohrt. Sonst wächst hier ohnehin nichts. "Den Brunnen gab's schon", erklären drei sonnengegerbte Männer treuherzig, die in einem Pick-up heranknattern. "Wir vertiefen ihn nur. Früher sind wir in 200 Metern Tiefe auf Wasser gestoßen, jetzt müssen wir 600 Meter tief bohren."
"Es ist schwierig, den Anbau von Kat zu beenden, denn er schafft viele Arbeitsplätze", sagt Baker Ali Baker, Vizegouverneur von Amran für Wasser und Umwelt. "Aber unser langfristiges Ziel ist es, den Anbau endgültig abzuschaffen." Nach dem offiziellen Termin im Gouvernorat lädt der Vizegouverneur zu sich nach Hause. Auf den Polstern in dem großen Gästeraum macht es sich ein Dutzend weißgewandeter Jemeniten bequem. Jeder hat eine Plastiktüte voller Kat mitgebracht, aus der er sich Blätter in den Mund stopft und kaut. Nach einer Weile haben sie alle eine dicke Backe - meist ist es die linke -, eine entspannte Atmosphäre breitet sich aus. Es ist früher Nachmittag - und der Arbeitstag ist vorbei. Kat macht munter und entspannt - zur Arbeit regt es nicht an.
Altes Wassersystem
Nicht nur der Nordjemen hat Wasserprobleme. Im ganzen Land gibt es keine ständigen Flüsse. Außerdem nimmt seit Jahren die durchschnittliche Regenmenge ab. Im Wadi Hadramaut im Südostjemen regnet es nur selten. Im unfruchtbaren Hochplateau nördlich des Wadis geht gelegentlich ein Monsunregen nieder, sammelt sich zu einer Flut und stürzt dann hinab ins Wadi, wobei alles niedergewalzt wird, was im Weg ist. Die Hadramis, wie die Einwohner des Hadramaut sich nennen, haben hier im Wadi aus Asche und Sand ein Kanalisationssystem gebaut, um die Fluten zu steuern. Das Wasser rauscht in einen Hauptkanal, der sich weiter und weiter verzweigt. Große Steinblöcke in den Kanälen dienen zur Regulierung.
Auf einem kleinen Deich steht Scheich Omar Bawubeid. Von oben prügelt die Sonne, unter den Füßen glüht der Erdboden. Dem Scheich ist nicht anzumerken, ob ihm heiß ist. Er trägt ein luftiges Wickeltuch und ein Hemd; die Sonne fängt sich in seinem feuerrot gefärbten, gepflegten Bart. "Kommt nur wenig Wasser, wird der Oasengürtel vor der Stadt Schibam von hier aus bewässert", erläutert Scheich Bawubeid. "Steigt der Wasserspiegel, kommen die nahe gelegenen Felder dran. Gibt es noch mehr Wasser, versucht man, es in entferntere Gebiete umzuleiten, ehe es Schäden an den Lehmhäusern der Region anrichten kann."
Ein ausgeklügeltes System der Wasserverteilung gehört seit Jahrtausenden zur Kultur der Hadramis. Jeder weiß, wann er wie lange Wasser auf sein Feld leiten darf. Die ältesten Teile des Kanalisationssystems sind mehrere hundert Jahre alt. Doch in den vergangenen fünfzig Jahren haben die Einwohner das System vernachlässigt. Das Wasser raste heran, richtete Schaden an und versickerte dann ungenutzt. Unter anderem mit Hilfe der GTZ wurde das System wieder instand gesetzt. Scheich Bawubeid ist Vorstand der örtlichen Wasserkooperative, die das System nun instand hält. Doch der Regen ist launisch geworden. "Früher hatten wir hier fünf bis sieben Fluten pro Jahr", sagt der Scheich in makellosem Hocharabisch. "Jetzt kommt manchmal zwei Jahre lang gar nichts. Deshalb wird nur noch ein Fünftel der Felder bebaut."
Immer mehr Menschen, immer weniger Ressourcen - so lässt sich die Situation im Jemen zusammenfassen. Seit jeher emigrieren viele Jemeniten nach Asien oder Afrika. Doch auch für die, die zurückbleiben, reichen die kargen Ressourcen nicht aus. Auch beim Konflikt zwischen dem Süd- und dem Nordjemen geht es in erster Linie um Verteilungskämpfe. Lösungsansätze? Bewusster, nachhaltiger Umgang mit den knappen Ressourcen. Mehr Ingenieure als Bauern. Mehr Weizen als Kat. Mehr Frauen in die Arbeitswelt. Also insgesamt: mehr Bildung.
Festtag in einer Grundschule in Hajja, im Nordjemen. Im Klassenzimmer in einem Flachbau sitzen rechts die Mädchen, links die Jungen. Alle haben ihre schönsten Kleider angezogen. An den Füßen tragen sie jedoch staubige Plastiklatschen. Der Lehrer hat auf Arabisch einen Satz an die Tafel geschrieben. "Besuch in der Stadt Aden", liest er laut vor. Die Klasse wiederholt brüllend den Satz. "Ahmad fuhr mit seinem Vater in die Stadt Aden!", schreit der Lehrer, die Klasse wiederholt im Chor. Unterricht war hier schon immer so. Weil aber auch hier die Entwicklungshilfe Lehrer fortbildet, ruft dieser nun gelegentlich auch einzelne Schüler auf. Wenn die richtige Antwort kommt, klatscht die Klasse Beifall.
Nur Grundschulabschluss
Es gibt auch Lehrerinnen. Sie präsentieren sich als eine Gruppe schwarzer Stoffbahnen: mit Ganzkörperschleier, nur die obere Pupillenhälfte ist zu sehen. Anders als ihre männlichen Kollegen haben sie keine Lehrerausbildung, sondern nur Grundschulabschluss. "Unsere Familien lassen nicht zu, dass wir studieren", sagt eine von ihnen.
Bei den Kindern setzt sich die Ungleichbehandlung der Geschlechter fort. Zwei von zehn Jungen und vier von zehn Mädchen gehen gar nicht zur Schule. Weil die Eltern nicht genug Geld haben, Schulbücher und ordentliche Kleidung zu kaufen. Weil Bildung nicht zum Anforderungsprofil einer traditionellen Jemenitin gehört, ja, zum Teil sogar schlecht angesehen ist. Von den privilegierten Jemenitinnen, die zur Schule gehen, müssen die meisten sie mit 12 Jahren wieder verlassen, weil sie dann geschlechtsreif werden und nicht mehr mit Jungen in einer Klasse sitzen dürfen. Ärztinnen möchten sie werden, sagen die Schülerinnen mit leuchtenden Augen. Wie viele kleine Mädchen auf der Welt. Ärztinnen? Mit 14 werden die meisten von ihnen heiraten und einen großen Schwung Kinder bekommen.
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