Alltagsbewältigung in der Diaspora: Verschiedene Socken bringen Pech
Unser Autor wurde in einem kasachischen Dorf geboren. Als die Familie nach Deutschland kam, nahm sie den Aberglauben von dort einfach mit.
Wenn ich gut gelaunt bin, dann pfeife ich vor mich hin. Irgendeine Melodie, die mir gerade so durch den Kopf schwirrt. Meistens ohne es zu merken. Jedenfalls ohne mir groß etwas dabei zu denken. Wenn ich bei meiner wolgadeutschen Großmutter pfeife, bekomme ich Ärger. „Bitte, Artur, pfeif nicht hier im Haus.“ Warum ich nicht pfeifen soll, frage ich. „Wenn man im Hause pfeift, dann wird die Familie bald kein Geld mehr haben“, antwortet sie. „Ah ja“, sage ich. Woher kommt nur dieser Aberglaube? Ich glaube, das kann ich erklären.
Geboren bin ich in einem Dorf in der kasachischen Steppe. Es heißt Uspenka. Das lässt sich mit „zum Glück“ übersetzen. Von Glück und Unglück können die zahlreichen Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion ein Lied singen. Vielleicht auch pfeifen. Nicht zu laut. Auch nicht im Haus. Wer Deutsch spricht, war verdächtig. Wer auf Deutsch gepfiffen hatte, wahrscheinlich umso mehr. Verdächtig, die Sowjetunion zu verraten. Mit Faschisten zusammenzuarbeiten. Es soll ja am besten keiner hören. Das kann gefährlich werden. Das bringt Unglück. Das hinterlässt Spuren.
Meine Vorfahren dachten in solchen Kategorien. Glück, weil sie überleben konnten. Unglück, weil sie deportiert wurden, in Gulags landeten und viele ihrer Familienmitglieder ermordet wurden. Glück deshalb, weil einige von ihnen Ende der 90er nach Deutschland kommen konnten. Unglück deshalb, weil sie, nun ja, so ihre Probleme mit den Einheimischen, den Deutschen, hatten.
Die Deutschen sind für unsere Diaspora befremdliche Wesen – vor allem für meine Großmutter. „Sie sind so sehr auf Arbeit, Ordnung und irgendwelche Bestimmungen fokussiert. Steuerformular, Krankenkassenformular, Rentenformular, überall Formulare. Warum machen das diese Nemzi?“, fragt sie mich. Sie meint Deutsche. „Das weiß ich auch nicht so ganz“, sage ich verlegen. Ich denke: Wir sind anders. Das liegt daran, dass sich Deutsche ihr Unglück nicht erklären können. Deswegen können sie es sich nicht leisten. Die postsowjetischen Migranten können das.
Wir haben nach Jahrzehnten der russischen Assimilation den Aberglauben übernommen. Es ist so einfach zu verstehen, so komplett logisch für mich: Wenn ich zu Hause etwas vergessen habe und noch mal zurückgehen muss, gucke ich daheim als Erstes kurz in den Spiegel. Sonst ist der Tag gleich im Eimer. Das hilft mir, mich selbst zu reflektieren. Dann spreche ich mit mir: „Artur, hast du deine Schlüssel, dein Handy, Brieftasche, Tasche und deinen Kopf dabei?“ Ich antworte mir laut vor dem Spiegel: „Ja, ich habe alles dabei!“ Gerade noch den Tag gerettet. Wenn ich dann in der Schule eine versaute Klassenarbeit zurückbekam, lag es nicht an meinem fehlenden Willen, zu lernen. Ich war nicht faul. Es lag an meinen zwei verschieden Socken. Beste Ausrede. Das bringt Pech. Das ist klar!
Schweigen vor der Reise
Bevor meine Eltern und ich eine Reise antreten, müssen sich alle Familienmitglieder mindestens fünf Minuten gemeinsam hinsetzen und schweigen. Vielleicht sind es nur zwei Minuten. Für mich fühlt es sich manchmal länger als die Reise selbst an. Erst dann verläuft die Reise gut. Und wenn jemand aus der Familie dann auf Reisen ist, darf sein Zimmer nicht aufgeräumt werden. Bringt Unglück. Und ja: Es ist eine Ausrede, um sein Zimmer wie ein Schlachtfeld zu hinterlassen.
Wenn wir schon beim Schlachtfeld sind: Meiner künftigen Partnerin darf ich auf keinen Fall ein Bild von mir schenken. Warum? Sonst sehe ich sie nie wieder! Das hat sich bei mir bis jetzt immer bestätigt. Wie ein Fluch, den man nicht brechen kann. Im Positiven wie im Negativen. Wo Flüche sind, sind Geister nicht weit. Und da wir ja bei den Geistern der Vergangenheit sind: Über Geister sollte man auf keinen Fall schlecht reden. Und überhaupt: Niemand sollte über Geister reden. Die sind gruselig. Und ich will nicht von ihnen heimgesucht werden. O. k.? Alright. Weiter.
Ich glaube, diese Bräuche und Traditionen sind weniger ein Glauben. Sie sind ein Mechanismus für einen vernünftigen Alltag. Sie sind wie ein Gesetzbuch für Verhaltensweisen. Denken wir einfach an den Moment, in dem man sich hinsetzen soll, bevor man verreist. Ich glaube nicht wirklich, dass da eine kosmische Kraft wirkt. Ich glaube, es hilft mir, die Gedanken zu sammeln. Vor lauter Aufregung kann man ja vieles vergessen. Dieses Problem haben die Deutschen nicht. Sie sind mit ihren Notizbüchern, To-do-Listen und Terminkalendern für jede Weltreise gewappnet. Sie sind einfach geordneter als wir. Dafür haben wir das Übersinnliche auf unserer Seite. It’s a kind of magic.
Wenn das Auge juckt
Die Deutschen sprechen von Fortschritt, Digitalisierung und Wissenschaft. Alles gut. Alles verständlich. Alles nachvollziehbar. Alles spießig. Wo bleibt da der Spaß an der Zauberei? Die Menschheit versucht sich seit Jahrhunderten Phänomene durch übernatürliche Zusammenhänge zu erklären. Warum behalten wir sie nicht bei? Zumindest mit einem Augenzwinkern. Wenn bei euch das linke Auge juckt, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass ein Fremdkörper drin ist. Eine Fliege, ein Tumor oder so was, keine Ahnung. Wie langweilig! Bei uns heißt es, dass wir uns bald freuen werden. Wenn ich mich dann freue, denke ich: Ha! Mein Auge hatte recht. Ich habe den Durchblick. Den Deutschen ihre Quittung für die Steuererklärung. Und uns die Freude an falschen Socken und juckenden Augen.
Wenn die Nase bei den Deutschen juckt, bedeutet es, dass als Auslöser für den Vorgang sowohl eine Erkältung als auch Allergien oder Medikamente in Frage kommen. Daneben ist es ebenso möglich, dass der Juckreiz durch Trockenheit – beispielsweise durch eine trockene Nase – hervorgerufen wird. Unsere Antwort ist simpler: Entweder du wirst bald saufen oder du wirst geschlagen. Bei Beschwerden fragen Sie Ihren Wahrsager oder Heiler.
Moment, ich muss mich korrigieren: Bei osteuropäischen Hochzeiten, so das Klischee, wird erst gesoffen und dann geschlagen. Es gibt kein Entweder-oder. Es wird immer gesoffen und dann geschlagen. Also Aktion, dann Reaktion. Trinken, dann Schlägerei. Der Nasenaberglaube ist kausal, wie das Klischee, dass zuerst getrunken und dann geschlagen wird.
Ich glaube, dass der Aberglaube nicht nur Handlungsanweisungen liefert. Mit dem Aberglauben können wir diese komplizierte und oftmals graue Welt, die aus Arbeit und Überstunden besteht, bunter machen. Bei uns gibt es mehr als Tickets fürs Falschparken oder Steuererklärungen. Bei uns steht der Wodka auf dem Tisch. Die Fäuste stecken in den Hosentaschen. Die Magie brodelt in unseren Herzen. Die Deutschen sollten sich ein wenig Magie abschneiden. Dann ist ihre Vita nicht so langweilig.
Unsere Welt ist ein Ort, in dem es nicht nur logisch zugeht. Manchmal ist sie auch ein Ort, in dem ich in einen Haufen Schäferhund-Scheiße trete und mich ärgere. Dann frage ich meine Oma nach der Bedeutung. Sie sagt: „Das bringt dir Glück, Artur. Und das ist gut so.“ In unserer Geschichte, die aus Umbruch, Vertreibung und Diskriminierung besteht, muss man halt das Beste daraus machen. Das geht nur mit Aberglauben. Auch wenn meine Schuhsohle stinkt. Das geht in Ordnung. Es bringt schließlich Glück. Ich sollte jetzt mal auf den Tisch klopfen. Sonst wird’s kein Glück für mich geben.
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