Alltag in der Ukraine: In Gedanken im Krieg
Das ukrainische Dorf Popiwka nahe der russischen Grenze blieb bisher vom Krieg verschont. Trotzdem beschäftigt die Bewohner nichts anderes.
Auf Taissjas Hof schnattern die Enten, Hühner und Küken. Wenn man aus der Küche aus dem Fenster schaut, sieht man nichts als Felder, Bäume und am Horizont einen Mischwald. Öffnet man die Tür des Hofes zur ungeteerten Straße, trifft man manchmal Radfahrerinnen oder Fußgänger. Eilig hat es hier niemand. Die Sirenen, die 15 Kilometer weiter die Bevölkerung der Kleinstadt Konotop fast täglich in Angst und Schrecken versetzen, hört man hier nicht.
Geweckt wird Taissja jeden Morgen von ihrem Hahn, von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends muss sie hart arbeiten. Draußen, bei den Tieren und auf ihren beiden Feldern. Im Sommer hat sie besonders viel zu tun. Himbeeren, Gurken, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Kirschen, Birnen und Äpfel gibt es hier zu ernten. Auf einem hundert mal zwanzig Meter großen Maisfeld finden sich auch Tabakpflanzen. Die hat ihr Schwiegersohn gepflanzt, für den Eigenbedarf. Jetzt ist gerade Zeit für die Kirschernte.
Irgendwann wird sie den Mais ernten, natürlich mit der Hand. Das meiste ist für die Familie und die Verwandtschaft in Kiew. Mitunter verkauft sie auch auf einem Markt. „So viel, wie ich mit meinem Fahrrad transportieren kann.“ Krank werden kann man bei dieser Arbeit nicht, lächelt sie. Vor ein paar Wochen ist es dann aber doch passiert. Da haben dann die Enkelkinder ausgeholfen, auch beim Melken der Ziege. „Die arme Ziege“, sagt sie.
Erst um halb zehn Uhr abends hat sie etwas Zeit für sich. Und kann sich endlich informieren zu dem Thema, das ihr den ganzen Tag im Magen liegt: der Krieg. Eine halbe Stunde vertieft sie sich mit ihrem Mobiltelefon in Telegram-Kanäle, Youtube und Facebook. Dass ihr verstorbener Mann Russe war, spielt für sie keine Rolle. Sie steht auf der Seite der Ukraine, hofft auf einen Sieg gegen Russland.
Russische Einheiten seien auf ihrem Weg Richtung Kiew ganz nahe an Popiwka und der Kreisstadt Konotop vorbeigefahren, berichtet sie. Nur einen Tag wurde in Konotop geschossen. Dabei wurden drei Menschen getötet. Dann war es vorbei.
Ganz unüblich für diesen Krieg hatten die Stadtoberen unter Leitung von Bezirkschef Dmitrij Schiwizkji mit den russischen Truppen ausgehandelt, dass diese nicht die Stadt betreten, sie vielmehr auf Landstraßen umfahren. Man habe sich mit ihnen geeinigt, sich nicht zu beschießen. Auch die ukrainische Flagge werde weiter in der Stadt wehen, hatte Schiwizkij mit den Russen vereinbart. Mit diesen Verhandlungen hat der Bezirkschef zu Kriegsbeginn landesweit für Schlagzeilen gesorgt.
Nicht verschont geblieben vom russischem Beschuss sind hingegen die Nachbarstädte Sumy, Schostka und Nischyn, erzählt die Bäuerin. „Dort haben sie gewütet, die Russen“.
Ukrainische Verluste sind hoch
Ein paar Gartenzäune weiter steht ein 40-jähriger, grauhaariger Mann am Tor zum Hof und raucht Kette. Er wohnt hier nur, sein Feld wird von einem Nachbarn bestellt. Er kommt sofort auf das einzig wichtige Thema zu sprechen, den Krieg. Er arbeitet beim Katastrophenschutz. Und dort ist er zuständig für Dinge, von denen die Öffentlichkeit besser nichts wissen soll. Leichenteile aufsammeln, das sei wirklich traumatisierend, meint er.
Am schlimmsten sei sein Einsatz in Nischyn gewesen, als er die Knochen von Kollegen in den Händen gehalten hatte. Auch die ukrainischen Verluste seien sehr hoch, erzählt er. „Beide Seiten haben ungefähr gleich viele Verluste. Unsere Leichenhallen sind immer voll.“ Doch offiziell könne man in der Ukraine nur die Zahl der getöteten Russen erfahren.
Für Taissja Garadnitschewa ist der Krieg vorbei, sie lebt wieder so wie vor dem 24. Februar. Nur Pilze sammeln geht sie nicht mehr. Denn in dem Waldstück mit ihren geliebten Pilzen haben die Russen ein paar Tage kampiert. „Und wer weiß, was die alles zurückgelassen haben“, meint sie. Von Dorfbewohnern habe sie gehört, dass da wohl noch Minen lägen.
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