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Archiv-Artikel

Alles, was da hängt

Mit doppeltem Reißzahn, zweiter Haut und brauner Springflut: Volker Lösch hat in Stuttgart Shakespeares „Hamlet“ in Szene gesetzt

Volker Löschs erste Großtat: Er steckt die Schauspieler in Körperkostüme und stellt ihre Nacktheit damit als Fake aus

VON JÜRGEN BERGER

Der Dänenprinz also, und zwar an dem Wochenende, an dem Heiner Müller 80 geworden wäre. „Mein Drama findet nicht mehr statt“ ist der zentrale Satz in Müllers „Hamletmaschine“. Volker Lösch, so konnte man annehmen, wird am Stuttgarter Staatsschauspiel der müllerschen Dekonstruktion folgen und dem Drama des intellektuellen Zauderers jegliche Dramatik austreiben. Interessanterweise geschieht aber das genaue Gegenteil. Hamlet schreit mit jeder Faser seines Körpers: „Mein Drama findet schon wieder statt.“ Er heißt Till Wonka und rammt in der zentralen Szene eine Menge Plastikflaschen in den Torf des fauligen Staates Deutschland.

Die Bühne ist eine schwarz-braune Schlammwüste und jede Flasche der Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Konzerns. Stuttgarts Hamlet weiß, welche Vorstandsflasche im Aufsichtsrat welches Konzerns sitzt und dort eigentlich nicht sitzen dürfte, da er ja sowieso keine Zeit hat. Das ist eine fulminante Szene und Wonka ein Hamlet, der sich in der Krabbelgruppe genauso heimisch fühlt wie im Wirtschaftsteil der FAZ. Plötzlich allerdings hält er inne, spricht unvermittelt den „Seins“-Monolog und nimmt ihn denkend auseinander, wie man das selten hört. Wonka ist Löschs Geheimwaffe im Kampf mit Shakespeare. Dass Lösch auch diesmal wieder Deutschlands zähester Provokateur ist, versteht sich von selbst. Da hat er in Hamburg gerade mit seiner Milliardärsschelte unter Verwendung von Peter Weiss’ „Marat/Sade“ die Gemüter erhitzt, schon präsentiert er in Stuttgart den Staat so nackt und korrupt, wie er nun mal ist.

Mit der Nacktheit ist das allerdings so eine Sache. Da es im „Hamlet“ um die Scheinwelt der Lüge, Intrige und des investigativen Schauspiels geht, besteht die erste Großtat des Überrumpelungskünstlers darin, Nacktheit als Fake auszustellen. Lösch ist nicht Gosch, also stürmen die Schauspieler in Körperkostümen als dänische Neandertaler die Bühne. Alles, was da hängt, wird vom Kostüm der Nacktheit wie ein zweite Haut abgebildet. Dass Hamlet ein anderer ist, sieht man allein schon daran, dass bei ihm alles noch ziemlich straff baumelt und er sofort solitär in der Ecke steht. Notwendig ist das insofern, als Till Wonka die Entdeckung des Abends ist und gut in dieser Halbdistanz zu einigen Regieanfällen Volker Löschs lebt.

Etwa wenn sich der dänische Intrigantenstadel zum Gruppenbild formiert und Elmar Roloff die händeringende Genderqueen Gertrud gibt, während sich Katharina Ortmayr als Polonius auf den Schenkeln des Claudius räkelt. Polonia ist wie Gertrud nicht mehr als eine Karikatur, während Sebastian Kowski als Claudius ein ernst zu nehmender Widerpart des Hamlet ist. Zu sehen ist das vor allem im Spiel im Spiel, in der „Mausefalle“, in die der Brudermörder Claudius tappen soll. Das hat schon was, wie die Stuttgarter Dänen da ins Publikum runtersteigen, Till Wonka oben im Bühnenkasten den investigativen Hamlet gibt, im entscheidenden Moment aber Claudius auf die Bühne bittet, Sebastian Kowski ein souveräner Mörder an der Spitze des Staates ist und lächelnd den Giftmord spielt.

Ist ja sowieso alles nur Spiel, sagt das Lächeln, und Lösch ist bei der zentralen Problematik seines Provokationstheaters gelandet. Nicht umsonst lässt er Hamlet die Frage stellen: „Wie macht man einen Skandal?“ Und nicht umsonst ist Till Wonka dann ungeheuer stark, wenn er abseits jeglichen Skandalons ein junger Rebell sein darf, der gern Anarchist wäre, steckte in ihm nicht dieses Muttersöhnchen, das nach dem Poloniusmord dann doch wieder an Gertruds Brust nuckelt. Bliebe noch der Chor. Wo bitte bleibt dieses Mal das Schleef-Implantat, aus dem Lösch so gerne einen Reißzahn im Arsch des bürgerlichen Publikums machen möchte? Keine Angst: Es gibt ihn, sogar in doppelter Ausführung.

Da wäre zum einen der Geist von Hamlets Vater in Gestalt von neun Filbinger-Imitaten. Skandieren die den Text der väterlichen Erscheinung, ist das insofern konsequent, als jeder vernunftbegabte schwäbische Hamlet mit dem Geist der Väter immer auch den grinsenden Marinerichter und Ministerpräsidenten beschwört. Da ist aber auch dieser zweite Chor, der wie eine schicke neonazistische Welle von hinten auf die Bühne quillt. Ein grandioses Bild ist das schon, wirft aber doch die Frage auf, warum die braune Springflut ausgerechnet ein 52facher Fortinbras sein soll und nicht etwa Rosenkrantz und Guildenstern, die zuvor wie Hündchen um Claudius schwänzelten. Der Rest wäre Schweigen, bastelte Volker Lösch unter Umständen nicht bereits an den nächsten Neonazis der dramatischen Weltliteratur.