Alles digital wegen Corona: Zoom in die Vergangenheit

Durch Corona wurden Zeitzeug*innen-Erzählungen digital. Aber wie gut lassen sich überhaupt Geschichten online erzählen? Eine Bestandsaufnahme.

Eine Frau sitzt während der Corona-Pandemie an einem Tisch in ihrer Wohnung vor einem Laptop, während sie mit weiteren fünf Personen an einer Videokonferenz mit der Videokonferenzanwendung ZOOM teilnimmt

So geht digitales Erzählen natürlich auch Foto: picture alliance/Anthony Anex/KEYSTONE/dpa

BERLIN taz | Dass Monique Herrmann, Jahrgang 1944, gerade spricht, verraten nur ihre Lippenbewegungen – das Mikrofon ist noch aus. Nachdem der richtigen Button gefunden ist, setzt die Sächsin etwas aufgeregt noch einmal an: „Hallo, ich bin die Frau Herrmann aus Riesa und ich war 30 Jahre Kindergärtnerin.“ Als sie wenige Sätze später vom Berufsalltag in der DDR erzählt, scheint sie die Kamera schon vergessen zu haben: Mal wird ihre Stimmte lauter, dann untermalt sie ihre Erzählung mit einem energischen Kopfschütteln. Gelegentlich gestikuliert sie so stark, dass ihre Hände durch den Bildausschnitt huschen, obwohl dieser sie nur bis zu den Schultern zeigt.



Zu Gast ist Monique Herrmann beim „Digitalen Erzählsalon“, eine Reihe, die diesen Sommer zum Thema „30 Jahre Deutsche Einheit“ stattfindet. Das Format der Erzählsalons gibt es schon seit 2001, geladen waren in dieser Zeit schon Seniorenheimbewohner*innen, Bergmänner oder jüdische Exilant*innen. Veranstaltet werden die Salons von ­Katrin Rohnstock und ihrer Firma Rohn­stock-Biografien, die aus den erzählten Geschichten Bücher schreibt. Neu ist, dass sich die sieben Gäste wegen der Coronapandemie nicht in den Berliner Firmenräumen treffen, sondern in einer Zoom-Konferenz. Zusätzlich wird die zweistündige Veranstaltung auf Youtube gestreamt.

Noch bis Ende August kommen die Gäste zusammen, um über Konsum, Frauen oder Migration zu erzählen, auch Regionen wie die Lausitz oder Thüringer Wald sind Thema. An diesem Sonntagabend, an dem sich Frau Herrmann aus ihrer Wohnung dazuschaltet, soll es um die soziale Marktwirtschaft gehen. Detlef Janke, ein weiterer Redner, hat leider Pech: Sein Bild fällt aus, als er davon erzählt, wie er nach der Wende Unternehmensberater wurde. Komplett rund läuft es also noch nicht, das digitale Erzählen.



Weil die Pandemie persönliche Gesprächsrunden mit Zeitzeug*innen unmöglich macht, müssen die Formate neu gedacht werden. Die Erzählsalons wurden in nur sechs Wochen auf die Beine gestellt, andere Institutionen wie das Zeitzeugen-Portal oder die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen befassen sich schon länger mit dem digitalen Erzählen. Aber wie gut lassen sich Geschichten überhaupt per Zoom erzählen? Und hat das Digitale auch Vorteile?



Der direkte Augenkontakt fehlt

„Die kulturelle Anregung für die Erzählsalons kommt aus dem Jüdischen“, erzählt Katrin Rohnstock, Gründerin von Rohnstock-Biografien. Ein befreundeter Theologe habe ihr davon erzählt, wie sich Jüdinnen und Juden am Sabbat treffen und von ihrer Woche erzählen. „Das war genau das, wonach ich gesucht habe: ein gleichberechtigtes Erzählformat, das ohne Hierarchien funktioniert“, sagt die Literatur- und Sprachwissenschaftlerin. In ihren Erzählsalons würde darum niemand kommentieren, und es würden keine Fragen gestellt, die auf bestimmte Antworten abzielten. „Oral History“ heißt diese Methode der Geschichtswissenschaft, die auf dem Sprechenlassen der Zeitzeug*innen basiert.

„Für die digitalen Erzählsalons haben einige abgesagt, weil sie Youtube misstrauen“, sagt Rohnstock. Ihre Erfahrungen aus den ersten zwei von insgesamt drei Monaten Projektlaufzeit: „Der direkte Augenkontakt fehlt, das macht manchen Gast unsicher. Da fehlt ein wichtiger Ankerpunkt.“

Bei den früheren Erzählsalons hätten die Zeitzeug*innen bei Wein und Kerzenschein aus dem Bauch heraus erzählt. In der digitalen Form lese nun etwa ein Drittel die Geschichte nur ab. „Die Herausforderung ist, das authentische Erzählen zu fördern anstelle des perfekten“, erklärt Rohnstock. Inhaltlich aufeinander beziehen würden sich die Gäste aber auch trotz Zoom.



Der größte Verlust sei, dass die Gespräche danach fehlen: „Das ist immer wie eine kleine Explosion. Dann springen die Leute auf und wollen individuell anknüpfen und Ideen austauschen.“ In der digitalen Variante gehe das ja nicht. Zwar könnten die Gäste am Ende der Youtube-Übertragung noch weiter über Zoom sprechen, das sei aber weitaus weniger emotional. Auch die Chatfunktion nutze fast niemand.

Viel technischer Aufwand

Eine Herausforderung sei auch die technische Versorgung der Gäste: „Ein Teil unserer Zielgruppe hat gar keinen Computer oder wohnt in Gegenden mit schlechtem Internet“, erzählt Rohnstock. Unterstützung sei vom Wirtschaftsministerium gekommen, es habe Tablets mit SIM-Karten gesponsert. Was bleibe, sei der Aufwand, aus der Ferne zu erklären, wie die Gäste Zoom installieren und sich gut ausleuchten können.

Auf einem Smartphone, das auf Büchern liegt, ist zu sehen, wie ein Personal Trainer in einer Zoom-Konferenz eine Übung macht

Mit Zoom geht auch alles andere, Yoga-Übungen erklären zum Beispiel Foto: picture alliance/Marijan Murat/dpa

Auch Astrid Ley von der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ist mit solchen technischen Problemen konfrontiert. Eigentlich sollte es im April eine Jahresfeier zur Befreiung des Konzentra­tions­lagers geben, einige der über 90-jährigen Zeitzeug*innen sollten dazu anreisen. Stattdessen wurde der Jahrestag ins Netz verlegt. „Ich habe mit einem in den USA lebenden Zeitzeugen versucht, ein Skype-Interview aufzunehmen. Die Qualität der Akustik war aufgrund von Internetproblemen aber so schlecht, das wir es nicht verwenden konnten“, sagt die stellvertretende Leiterin. „Viele hätten technische Hilfe von ihren Enkeln gebraucht, die das Video ordentlich aufnehmen. Aber die durften sie ja wegen der Pandemie nicht treffen“, erklärt Ley weiter.


Wie alle Gedenkstätten stünde man in Sachsenhausen vor dem Problem, dass die Zeitzeug*innen sukzessive sterben. „Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere pädagogischen Programme umstellen. Beim Jahrestag 2015 habe ich 30 Interviews mit Überlebenden aufgezeichnet. Die könnten wir zum Beispiel online veröffentlichen“, sagt Ley. Es gebe aber auch experimentelle Möglichkeiten, die Geschichten von Zeit­zeu­g*i­nen zu erzählen: Die amerikanische Shoah Foundation stellte 2015 zum ersten Mal das Projekt „Dimensions in Testimony“ dauerhaft aus. Die Überlebenden erscheinen dort als Hologramm.



Insgesamt 22 Personen könne man Fragen wie: „Wo bist du geboren?“ oder „Was ist das Schlimmste, das du erlebt hast?“, stellen. Ein Programm errechne dann die passendste Antwort. Damit das funktioniert, haben die Interviewten etwa 2.000 Antworten zu ihrer Lebensgeschichte beantwortet.

Auch pädagogisch sinnvoll?

Anfang dieses Jahres, kurz vor dem Lockdown, konnte man die Installation auch im Technischen Museum Berlin besuchen. „Technisch ist das beeindruckend, dass es pädagogisch sinnvoll ist, wird von manchen Kolleg*innen bezweifelt“, sagt Leys von der Gedenkstätte Sachsenhausen. „Es sind immer noch die persönlichen Zeitzeugengespräche, die Jugendliche am meisten berühren.“



Markus Würz von der Stiftung Haus der Geschichte kennt allerdings auch Vorzüge digital aufbereiteter Geschichten: „Zeitzeugen wird eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen. Aber auch die machen mal Fehler und ziehen etwa Tage und Monate fälschlicherweise zusammen. Wenn man mit einem Video als Quelle arbeitet, fällt es leichter, misstrauisch zu sein und Aussagen zu prüfen“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter. Für Ausstellungen der Stiftung führt er jährlich 20 bis 50 Interviews mit Zeitzeug*innen, seit Corona mit ausreichend Abstand.

Katrin Rohnstock, Rohnstock-Biografien

„Die Herausforderung ist, das authentische Erzählen zu fördern“

Als Interviewer mache Würz eine Erfahrung wie Katrin Rohnstock in ihren Erzählsalons: Läuft eine Kamera, seien Zeitzeug*innen deutlich aufgeregter. „Mit zwei, drei Fragen kann man die Personen gut ins Gespräch bringen. Manchmal erzählen sie später dann sogar Geschichten, die nicht einmal ihre Frau oder Kinder kennen“, erzählt Würz, der ebenfalls die Methode des Sprechenlassens anwendet. Dass sich Zeitzeug*innen auf ähnliche Weise in einer Zoom-Konferenz öffnen, könne er sich nicht vorstellen.



Seit 2017 betreibt die Stiftung Haus der Geschichte das Zeitzeugen-Portal, ein großes Onlinearchiv mit über 1.000 Interviews, unterteilt in etwa 8.000 Clips. Einmal auf dem Internetportal, erschließt sich einem der Vorteil des Digitalen auf Anhieb: Alle Clips sind nach Themen, Zeiträumen und Personen sortiert.

Gibt nicht den einen Blick auf Geschichte

„Die Idee ist die Multiperspektivität. Es gibt nicht den einen Blick auf die Geschichte“, so Würz. Zum Mauerfall finde man so euphorische, aber auch ängstliche Stimmen. Momentan arbeite die Stiftung zusammen mit dem Fraunhofer-Institut an einem Programm, das eine Transkription der Videos liefert. Dann könne man im Archiv auch nach einzelnen Begriffen oder Zitaten suchen.



Und da wäre noch ein Vorteil der digitalen Aufbereitung: Das Videoformat biete einen niedrigschwelligen Zugang zu Themen, über die man noch wenig Vorwissen hat. „Die Leute lassen die Erzählungen zu Hause nebenbei laufen und holen sich ihren Happen Geschichte“, sagt Würz. Diesen Vorteil sieht auch Rohnstock in dem digitalen Format ihrer Erzählsalons: „Früher hatten wir nur selten Publikum, jetzt kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit online dabei sein.“


Aber nicht nur die Reichweite der Zu­hö­rer*innen sei größer – die Gäste könnten über das Internet aus entlegensten Orten zugeschaltet werden. „Veranstaltungen sind oft von Großstädter*innen geprägt. Dass wir jetzt Erfahrungen aus strukturschwachen Regionen hereinholen, ist eine enorme Bereicherung“, findet Rohnstock.

Der Zuwachs an Erzäh­le­r*innen könne den Ausfall der vom Digital­format abgeschreckten Gäste kompensieren. Und nicht nur das: Zu dem ­Erzählsalon zum Thema Frauen habe sich sogar eine ehemalige Olympia­siegerin zugeschaltet, die heute in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur lebe. „Das ist ein Vorteil des Digitalen“, freut sich Rohnstock, „den würde ich gerne übernehmen, wenn die ­analogen Erzählsalons wieder möglich sind.“

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