Alle Jahre wieder: Besinnlichkeit mit Bratwurst im Rücken
Noch schlimmer als Weihnachten ist Weihnachtsmarkt-Weihnachten. Oder? Ein Rundgang.
Weihnachtsmärkte sind ein bisschen wie Zuckerwatte. Man hat so richtig Bock drauf, und am Ende muss man kotzen. Was einen nicht davon abhält, es wieder zu tun. Zuckerwatte. Weihnachtsmärkte. In Erwartung von – ja, von was? Dass Zuckerwatte irgendwann noch mal überrascht? Dass man dieses verdammte Weihnachten tatsächlich zwischen Glühwein und roten Liebesäpfeln einmal zu fassen bekommt? Der Selbstversuch am zweiten Advent soll es zeigen.
11.30 Uhr, Alexanderplatz. Der Weihnachtsmarkt zwischen Galeria Kaufhof, Weltzeituhr und Stadtbahn-Trasse steht ein bisschen im Schatten des Riesenrads vor dem Roten Rathaus. „Eine bunte Winter- und Weihnachtswelt“ verspricht die Reklame, Glasbläser und Erzgebirgsfolklore, „weihnachtliche Stimmung“.
Am U-Bahn-Ausgang stinkt es wie immer nach geschmolzenem Käse-Imitat von der Pizzabude eine halbe Treppe tiefer. Draußen: gebrannte Mandeln. Glühweinatem. Vor mir dreht sich etwas. Ein doppelstöckiges Karussell, die Lichter blinken störrisch im Gegentakt zum „Last Christmas“-Medley. Kreischende Kinder auf weißen Pferden, rufende Mütter. Wer stehen bleibt, hat die Bratwurst des Hintermanns im Rücken.
Weihnachtsmarkt auf dem Alexanderplatz. Zwischen Weltzeituhr und Galeria Kaufhof, noch bis 29. Dezember, täglich von 10 bis 22 Uhr, Heiligabend bis 16 Uhr. Mit Europas größter Erzgebirgspyramide, Turmbläsern am Wochenende und Eisbahn. Und weißem Glühwein am "Pyramidentreff".
Lucia-Weihnachtsmarkt in der Kulturbrauerei, Prenzlauer Berg. Noch bis 22. Dezember, werktags von 15 bis 22 Uhr, am Wochenende schon ab 13 Uhr geöffnet. Hier ist alles skandinavisch, vom Namen (die Heilige Lucia wird in Schweden als Lichtbringerin verehrt) bis zur Verköstigung. Sehr schön, sehr voll, ziemlich teuer.
Sozialer Weihnachtsmarkt auf dem Nettelbeckplatz, Wedding. Findet nur einmal in der Adventszeit statt, dieses Jahr am zweiten Adventswochenende (müssen Sie bis nächstes Jahr warten). Veranstalter ist die "Goldnetz", eine gemeinnützige Gesellschaft, die Langzeitarbeitslose weiterbildet und beschäftigt. Auf dem Sozialmarkt verkaufen sie Selbstgemachtes. Es gibt alkoholfreien Punsch, vegane Suppen und einen Weihnachtsmann. (akl)
Das Tempo auf Weihnachtsmärkten ist hoch. Als ob man die Suche nach Entschleunigung beschleunigen könnte. Besinnlichkeit? Kann man die kaufen? Vielleicht kann man sie ja essen. Eine Bratwurst, bitte.
Fünf Lieder im Repertoire
12 Uhr, am „Pyramidentreff“. Die Frauencombo aus Eisenhüttenstadt, Weihnachtsmannmützen auf den blondierten Haaren, ist gut drauf. „We wish you a merry Christmas“, scheppert es aus den Boxen, noch einen Eierlikörpunsch mit Sahne, dann schunkeln Gudrun und ihre Freundinnen. Das Musikrepertoire des „Pyramidentreffs“ besteht aus ziemlich genau fünf Liedern. Gudrun stört es nicht. „Einen Glühwein, bitte“, sage ich. Für warmen Eierlikör fehlt mir der Mut.
Zwei Tische hinter Gudrun steht Diana aus Hamburg. Schon eine ganze Weile. Los ging’s mit Bier („Immer sachte!“), dann Glühwein, dann Eierlikör. Missbilligend schaut sie auf mein Glas. Roter Glühwein? Anfängerin! „Weißen musste trinken“, sagt sie und schiebt mir ihres rüber. „Mal probieren?“
Ich will nicht. Probiere trotzdem, finde die Kombo aus Orange, Zimt und billigem Wein grauenvoll, sage „lecker“ und habe eine neue Freundin. Ich erfahre, dass Diana das Udo-Lindenberg-Musical besser findet als das über Rocky, welches aber wiederum schlechter sei als das über Queen. Diana hat auch eine Meinung zu Sturm „Xaver“ („Überbewertet!“) und zum Hamburger Abendblatt („Zu viel Information!“). Ich nicke folgsam, ich habe Respekt vor ihr. Sie schafft einmal Eierlikör und zweimal Glühwein (weiß), während ich mich immer noch an diesem Anfängergesöff abarbeite. „Nächste Rutsche“, rufen Dianas Begleiter. Ich gehe. „Weißen musste trinken!“, ruft sie mir nach.
13 Uhr, im Budenlabyrinth. Langsam geht mir das Weihnachtsmarktweihnachten auf die Nerven. Weihnachtsmarktweihnachten ist hässlich und macht komische Geräusche. Ständig haben die Leute den Mund offen, weil sie Champignons oder Bratwurst oder Lángos essen müssen, dann putzen sie sich die Kräutermayonnaise mit mäßigem Erfolg aus dem Bart und schlürfen am Glühwein-to-go-Becher. Die meisten trinken übrigens rot, ha! Mein angespanntes Verhältnis zu „Last Christmas“ verschlechtert sich weiter.
13.30 Uhr, Weltzeituhr. Brigitte springt mir in den Weg. Sie hat eine Leopardenflecken-Mütze auf dem Kopf und ein Megafon in der Hand, da hinein singt sie, ziemlich laut und ziemlich falsch. Ich tippe auf „Alle Jahre wieder“. „We shall overcome“, strahlt Brigitte. Brigitte ist dagegen, dass sich der Westen in Syrien oder der Ukraine einmischt. Grundsätzlich. „Wo sind unsere Grenzen“, ruft Brigitte, „wo sind sie denn?“ Brigitte war auch gegen den Golfkrieg, damals. Das Grundgesetz, der Natovertrag, das Völkerrecht … „Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?“ Ich sage, ich muss erst Weihnachten finden. Ich glaube, sie hält mich für verrückt. Ich sie auch.
14 Uhr, Lucia-Weihnachtsmarkt in Prenzlauer Berg. In den Höfen der Kulturbrauerei ist man über jeden Trash erhaben. Das Kettenkarussell ist Vintage und blinkt nicht, die Crêpes heißen Galettes. Hier wird nicht geschunkelt, geht auch gar nicht: Sphärische Klänge wabern durch die Luft, gemischt mit ein bisschen Weltmusik. Väter hinter Kinderwägen, Väter bei der Bastelstunde. Das Angebot „Eierlikör und Riesentrampolinspringen, komplett 7 Euro“ wirkt merkwürdig billig neben dem Stand mit Schalen aus upgecycleten Vinyl-Schallplatten.
Überhaupt ist das Weihnachtsmarktweihnachten hier upgecyclet. Elchbratwurst, Rentiergulasch, der Glühwein heißt Glögi und kommt aus Finnland. Ist es besser, sich mit Glühwein zu betrinken, wenn er aus Heidelbeeren oder Äpfeln gemacht ist? Die Mützen jedenfalls werden nicht sehr viel schöner, nur weil sie handgestrickt und aus echter Wolle sind.
Schnee aus Puderzucker
Ein Mädchenchor singt „In der Weihnachtsbäckerei“, die Väter spendieren Zuckerwatte. Es würde mich nicht wundern, wenn die paar verlorenen Schneeflocken, die sich in den Pfützen auflösen, aus Puderzucker sind. Das ist alles sehr schön. Und ein bisschen bescheuert, denke ich, als ich mich tatsächlich in der Glögi-Schlange wiederfinde. Das Zeug schmeckt … wie Glühwein. Ernüchtert puste ich mir ein bisschen Puderzuckerschnee von der Mütze und ziehe weiter.
15.30 Uhr, Nettelbeckplatz. Wedding. Einmal im Advent ist hier „Sozialmarkt“. Ein paar Büdchen ducken sich im Wind, ein einsamer Trompeter intoniert „Kling, Glöckchen“. Es gibt Selbstgebasteltes, vegane Linsensuppe für 50 Cent, Früchtepunsch für 20 Cent. Sterni gibt’s wie immer um die Ecke vor dem Casino.
Irgendwie hat man hier komplett den Zuckerguss vergessen, vielleicht wird einem deshalb auch nicht so schnell schlecht. Es gibt keinen Heidelbeerglühwein und keine Kräutermayonnaise und auch keine schunkelnde Gudrun aus Eisenhüttenstadt. Dafür gibt es einen Weihnachtsmann für die Kinder, der heißt Abdul und kommt aus dem Libanon. Wenn die Kinder ihm versprechen, der Mutter in der Küche zu helfen, gibt’s ein Geschenk. Alle versprechen es treuherzig, auch Erkin, der kurz versucht hatte, seine Hand in Abduls Sack zu mogeln.
Eine Frau pöbelt ein bisschen rum, sie will Bratwurst. Bloß hat sie kein Geld und auch keinen Sozialhilfeempfängerausweis, dann gäbe es die Wurst nämlich umsonst. Die Verkäuferin am Stand nebenan berät sich mit ihrer Kollegin, dann stapft sie los und kauft der Pöbelfrau eine Wurst. So geht Weihnachten.
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