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Alke Wierth über einen pinkelnden Busfahrer der Linie M29Wichtige und wichtigere Bedürfnisse

Die Nutzung des ÖPNV (sorry, aber ich kenne außer schlechten Werbespots niemanden, der von „Öffis“ spricht) bietet ja eigentlich Tag für Tag Stoff für betrachtende Texte wie diesen. Deshalb schreibt man sie gewöhnlich nicht: Die anderen, die LeserInnen, waren ja quasi selber dabei.

Hier nun die Ausnahme von der Regel: passiert auf der Linie M29, es kamen mal wieder vier Busse hintereinander, was für mich gut war. So bekam ich noch den letzten, ohne zu rennen.

Der Fahrer, ein älterer Herr mit nicht nur dem Charme und der Ausstrahlung, sondern auch dem weißen Bart des Weihnachtsmanns, war im spätnachmittäglichen Feierabendverkehr die Ruhe selbst. Freundlich und entspannt fertigte er Zusteigende ab, die Fahrkarten kaufen oder Auskünfte haben wollten, und wartete geduldig auf NachzüglerInnen wie mich. Als Antwort auf unser Dankeschön brummte er weihnachtsmannmäßig in seinen Bart.

Als alle im Bus waren, schloss der gemütliche Fahrer jedoch nicht die Türen. Stattdessen machte er den Motor des Busses aus und verließ das Fahrzeug. Draußen stellte er sich dann an einen Baum neben der Haltestelle. Und pinkelte. Für die Fahrgäste im Wagen war er dabei gut zu sehen, manche guckten hin, viele guckten demons­trativ in die andere Richtung, der Fahrer selbst sah hinunter auf seine Hände und was sie hielten, er hob den Blick nicht. Es schien ihm peinlich zu sein, was er da tat, vermutlich tun musste, ein Bedürfnis, dem anders nicht mehr Herr zu werden war.

Das war es. Keine Pointe. Keine Reaktion von irgendeinem der Fahrgäste. Es wurde nicht einmal gelacht. Dass es Notlagen gibt, die ungewöhnliche Handlungen erfordern, schien irgendwie allen klar, auch wenn keiner toll fand, was geschehen war. Dem Busfahrer wurde kollektiv verziehen.

Mich durchzuckte ein kurzer Anflug von Ekel, als ich ihn an der nächsten Haltestelle Fahrkarten ausgeben und dabei Münzen in die vorgegebenen Fächer einstreichen sah – aber letztlich war auch ich der Meinung, dass sein körperliches Bedürfnis wahrscheinlich so stark gewesen war, dass er keine andere Wahl hatte, als ihm nachzugeben. BVG – wir lieben euch auch.

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