Alke Wierth spürt neuen Modetrends im Neuköllner Norden nach: Schrittfrei statt bauchfrei
Ein deutlicher Vorteil überwiegend verregneter Sommer ist, dass sie billiger kommen als sonnige. Zum einen muss man nicht ständig in Straßencafés überteuerte Eise oder Drinks zu sich nehmen (und bezahlen). Zum anderen braucht man keine neue Sommergarderobe – es sei denn, man will sie im zweiwöchigen Aufenthalt an südlichen Urlaubsorten vorführen, und wer sich die in den Sommerferien noch leisten kann, hat eh keine finanziellen Probleme.
Trotzdem sind im Trendsetterbezirk Neukölln neue Sommermoden auszumachen. Eine davon könnte man „schrittfrei“ nennen: die islamische Variante von „bauchfrei“. Noch vor zwei Jahren erklärten mir modebewusste muslimische Freundinnen, dass bei allem, was bei Islamfashion mittlerweile geht, doch eins niemals ginge: Oberteile dürften nie den Schritt sichtbar werden lassen, also die Stelle, wo die Oberschenkel aufeinandertreffen und sich das Genital befindet.
Doch auf dem Kottbusser Damm, der Sonnenallee oder Karl-Marx-Straße sieht man immer häufiger Frauen – nicht nur junge –, die diese Regel nicht einhalten. Die Haare bedeckt, das Oberteil so kurz, dass Gesäß und Schritt zu sehen sind.
Ich vermute, dass es sich vorwiegend um Syrerinnen handelt, die relativ neu in Berlin sind. Diese Vermutung stützt sich darauf, dass viele dieser Trendsetterinnen nicht zu bemerken scheinen, dass sie mit ihrer von anderen Muslimen als freizügig wahrgenommenen Bekleidung Anstoß erregen. „Günah!“ (Sünde), brüllte kürzlich ein älterer Herr türkischer Herkunft vor einer Moschee am Kottbusser Damm einer Frau hinterher, die unterhalb ihres Kopftuchs Hose und kurze Jeansjacke trug – und sich sichtlich nicht angesprochen fühlte, wohl weil sie das türkische Wort gar nicht verstand.
Die jungen Frauen, die ich jeden Sonntagmorgen ebendiese türkische Moschee ansteuern sehe, folgen dagegen einem entgegengesetzten Trend. Ihre bis vergangenen Sommer sehr moderne Bekleidung – weite, lange Hosen, darüber elegant fließende weite Oberteile in Grün-, Beige-, Grau- und gedeckten Blau- oder Rosatönen und oft mit pfiffigen Details – weichen jetzt schlichten bodenlangen schwarzen Gewändern, die den traditionellen Kleidern arabischer Frauen ähneln. Dass darunter immer noch ausgefranste Jeanssäume und coole Sneaker hervorlugen, lässt mich vermuten, dass die schwarzen Hüllen eher den Erwartungen der Verantwortlichen in der Moschee entsprechen als dem Modeideal der Mädchen.
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