Alice Munros neuer Kurzgeschichtenband: Seht her, solche Dinge geschehen
Der neue Band der Nobelpreisträgerin Alice Munro heißt „Liebes Leben“. Darin beschwört sie die Notwendigkeit der Literatur, um das Dasein zu begreifen.
Was macht ein Leben aus? Alice Munro, die große Kurzgeschichtenerzählerin, die in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält, versucht es in ihrem neuen Buch zu fassen. „Dear Life“ heißt dieser Brief an das Leben in der englischen Originalausgabe. Es sind 14 Erzählungen, die jetzt, pünktlich zur Nobelpreisverleihung am 10. Dezember, mit dem Titel „Liebes Leben“ auf Deutsch erscheinen.
In der ersten Geschichte des Bandes sendet Greta, Dichterin, Ehefrau und Mutter, einen Brief an einen Mann, den sie kaum kennt: „Diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken … Und hoffen, er wird Japan erreichen.“ Der Brief wird ihrem Leben eine Wende geben, und das nicht nur, weil den Mann ihre Botschaft erreicht. Gretas Zeilen sind der Beginn eines vorsichtigen Aufbruchs in ein anderes Leben, das Sichöffnen für unzählige wahrscheinliche und unwahrscheinliche Möglichkeiten in der Zukunft.
Dass es die zufälligen Begegnungen und plötzlichen Wendungen sind, die ein Leben zu dem machen, was es ist, erzählt Munro mit Figuren, die zunächst ganz unspektakulär in Erscheinung treten. Sie führen bürgerliche Leben, haben ein kleines Talent für irgendetwas oder auch nicht, sind weder besonders glücklich noch offenkundig unzufrieden. Doch wir Leser fühlen ihre Unvollständigkeit, wir begreifen, wie sehr sie sich nach etwas sehnen, von dem sie oft nicht einmal selbst etwas wissen.
Alice Munro: „Liebes Leben“. Aus dem Englischen von Heidi Zerning übersetzt. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 368 Seiten, 21,99 Euro.
Von Dramen und Lebensbrüchen wird hier ganz leise erzählt. Ein Kind ertrinkt in einem See, ein Mann lässt eine Frau am Hochzeitstag sitzen, eine Familie teilt ein Geheimnis, das nie gelüftet wird. Munro berichtet von diesen Ereignissen fast nüchtern, als wollte sie sagen: Seht her, so ist das Leben eben, solche Dinge geschehen. Ihr Ton ist nie pathetisch, ihre Sprache nimmt ihre Kraft aus der Schlichtheit. Allerdings kann Munro auch sehr komisch sein: „Sie sagte, sie habe nie Zeit für Gott gehabt, denn sie habe mit ihrem Vater alle Hände voll zu tun.“
Viel sagen mit wenigen Worten
Wofür brauchen wir überhaupt noch Verlage? Die Titelgeschichte „Es wird ein Buch“ über die Zukunft der Literatur lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Dezember 2013 . Darin außerdem: Wie man spontan einen Tisch voll Freunde bewirtet – auch wenn man den Besuch vergessen hatte. Und der sonntaz-Streit: Soll man im Flugzeug telefonieren dürfen? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Munros große Kunst ist es, uns nicht nur mit ihren Figuren fühlen zu lassen, sondern uns auch in ihre Denksysteme einzuweihen. Wir begreifen, aus welcher eigenen inneren Logik heraus sie handeln, selbst wenn ihre Entscheidungen fatale Folgen haben.
Die Fähigkeit, Komplexität der Gedanken- und Gefühlswelten, die einem einzelnen Menschen innewohnen, in einer kurzen Geschichte zu komprimieren, verleiht Munros Geschichten ihre Wucht. Es ist, als würde sie uns auf wenigen Seiten alles Wissenswerte über ein ganzes Land oder ein ganzes Zeitalter mitteilen. Man weiß, dass es nicht geht.
Und doch schafft es Munro, in einer kurzen Episode einen Menschen und seine Lebensumstände zu beschreiben und uns glauben zu machen, wir wüssten, wie es sich anfühlt, dieser Mann oder diese Frau zu sein. Wir teilen ihre Liebesabenteuer und Krisen, ihr Scheitern und ihr Können, und wir verstehen diese Lebensangelegenheiten sowohl intellektuell als auch emotional.
Immer eine Verbindung zur Welt
Alle Erzählungen spielen in Munros Heimat Kanada. Geboren 1931, wuchs sie auf einer Farm in der Nähe von Wingham in der Provinz Ontario auf. Schnell zog sie als junge Frau fort von dort, um zu heiraten und Kinder zu bekommen. Doch die Gegend um Wingham herum, der Huron County, bleibt das Land ihrer Geschichten. „Dann trat Stille ein, die Luft wie Eis. Zerbrechlich aussehende Birken mit schwarzen Flecken auf der weißen Rinde und irgendeine Sorte niedriger, wuscheliger Nadelhölzer, zusammengerollt wie schlafende Bären“, heißt es in der Erzählung „Amundsen“.
Es sind oft weite Landschaften mit Provinzkäffern, in denen Munro die Erzählungen ihrer Bücher ansiedelt, doch ist da immer auch irgendwo ein Bahnhof, ein Zug oder ein Bus, der in die nächste Stadt geht, eine Verbindung zu einem anderen Teil der Welt.
In den Städten besuchen die Menschen Literatenpartys („Es herrschte eine Aura von Anmaßung oder Nervosität, ganz egal, wer man war“), Hauskonzerte, Krankenhäuser.
Bücher tauchen in jeder Munro-Geschichte auf, egal, ob sie in der Stadt oder auf dem Land spielt. Es gibt immer mindestens einen, der liest oder schreibt, selbst auf den entlegensten Gehöften. Oder jemanden, der sich über Leo Tolstoi unterhalten will oder A. A. Milne zitiert.
Das ist es, was diese Kurzgeschichten eint: Jede von ihnen beschwört die permanente Gegenwart von Literatur, die Notwendigkeit des Erzählens, um das Dasein zu begreifen.
Geschichten aus der Perspektive der Frauen
Und dann sind da noch die Frauen. Sie sind oft die Protagonistinnen in Munros Büchern, aus ihrer Perspektive erzählt sie. Immer hat sich Munro für das Innenleben von Frauen und die äußeren Bedingungen, in denen sie leben, interessiert, ohne dabei „Frauenliteratur“ zu verfassen.
Viele Leserinnen und Kritikerinnen lieben Alice Munros Geschichten, viele männliche Buchkenner und Literaturkritiker haben sich nie mit ihrem Werk befasst, obwohl Munro seit Langem als herausragende Autorin gilt und vielfach ausgezeichnet wurde, etwa mit dem Commonwealth Writers Prize, zweimal mit dem kanadischen Giller Prize for Fiction sowie dem International Man Booker Prize. Mit dem Literaturnobelpreis 2013 erhält Munros Werk plötzlich die Aufmerksamkeit, die es verdient. Rezensenten entdecken ihre außergewöhnlichen Geschichten.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Nobelpreises wird ein literarisches Werk ausgezeichnet, das fast „nur“ aus Kurzgeschichten besteht. Die Shortstory ist Munros Form, sie hat sie perfektioniert.
Keine Zeit, um Romane zu schreiben
Ihre schlichte Begründung, weshalb sie nicht mehr längere Stücke verfasst hat, lautet: keine Zeit. Als sie in den 1960er Jahren mit dem Schreiben begann, waren ihre Töchter noch klein. Eingezwängt zwischen Schulaufgaben und Schuldgefühlen hat Munro ihr Schriftstellerinnendasein gepflegt.
In ihren Erzählungen kommen immer wieder Mütter vor, die überfordert sind, ihre Babys mit Betäubungsmitteln ruhigstellen oder ihre Kinder verlassen. Nicht selten geht es um Frauen, die ihr Selbst gegen eine totale Vereinnahmung als Hausfrau und Mutter zu verteidigen suchen. Aber so direkt hat Munro es nie ausgedrückt, ihre Erzählungen sind nicht explizit feministisch.
In ihrem neuen Buch ist das anders. An einer Stelle heißt es: „… dann musste sie erklären, dass das Wort Feminismus damals noch gar nicht in Gebrauch war. Also behalf sie sich damit, zu sagen, irgendeinen ernsthaften Gedanken zu haben – geschweige denn Ehrgeiz – oder vielleicht sogar ein richtiges Buch zu lesen, konnte dich verdächtig machen, und mit der Lungenentzündung deines Kindes in Verbindung gebracht werden“.
Als „schreibende Hausfrau“ wurde Alice Munro nach der Bekanntgabe des Nobelpreises von einem schreibenden TV-Moderator in einer Sendung vorgestellt. Munro hat sich selbst auch schon so bezeichnet, möglicherweise mit einem Schuss mehr Ironie.
Erste und letzte Dinge
82 Jahre ist sie jetzt alt, an der Nobelpreisfeier wird sie nicht teilnehmen, und sie sagt, „Liebes Leben“ sei ihr letztes Buch. „Finale“ steht vor den letzten vier Geschichten des Bandes. „Sie bilden eine gesonderte Einheit, die vom Gefühl her autobiografisch ist“, schreibt Munro, und: „Ich glaube, sie sind die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.“
Was macht ein Leben aus? Lesen Sie selbst.
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