Ali Çelikkan All Pain No Gain: Unter dem Druck der schnellen Genesung
Es ist eine der schmerzhaftesten Szenen im Fußball: Ein Spieler geht zu Boden. Während er auf der Trage vom Platz getragen wird, strömen ihm Tränen übers Gesicht. Man schluckt und hält sich unwillkürlich selbst das Knie. Die Saison des Spielers ist beendet. Alles, woran er noch vor wenigen Minuten gedacht hat – drei Punkte, die Champions League, ein möglicher Transfer, die Nominierung für die Nationalmannschaft –, ist auf einen Schlag bedeutungslos geworden. Daher die Tränen. Es ist das Kreuzband.
In der Saison 2023/24 haben sich in der Premier League doppelt so viele Spieler das vordere Kreuzband gerissen als im Vorjahr. Ein offensichtlicher Grund dafür ist die gestiegene Belastung der Spieler, die mittlerweile mehr als 70 Spiele pro Saison bestreiten müssen. Schon früh in der Saison sagte Manchester-City-Star und Ballon-d’Or-Gewinner Rodri, dass die Spieler kurz vor einem Streik stünden, weil der Spielkalender zu voll sei. Dann riss er sich selbst das Kreuzband und fiel für den Rest der Saison aus.
Dass Manchester City ohne ihn vollkommen einbrach, zeigt, warum ihn jeder so schnell wie möglich wieder auf dem Platz sehen will. Doch Teams haben auf die harte Tour gelernt, einen Spieler nicht zu früh zurückzubringen.
Ein Beispiel ist Barcelonas Gavi. Der 20-jährige Spanier riss sich im vergangenen Jahr das Kreuzband. Sein Comeback dauerte elf Monate. Der Klub ließ sich Zeit mit seiner Rückkehr, um das Risiko einer erneuten Verletzung zu minimieren – ein Problem, das bei Knieverletzungen besonders häufig vorkommt. Barcelona nutzte Gavis Rückkehr auch kommerziell und veröffentlichte eine Dokumentation mit dem Titel „Gavi: The Return“. Gavi kehrte zurück und unterschrieb in dieser Woche einen lukrativen neuen Vertrag. Doch für jeden Alan Shearer, Roberto Baggio oder Xavi gibt es Tausende Spieler, die nach einer Kreuzbandverletzung nie wieder ihr altes Niveau erreichen. Oder sich erneut verletzen.
Hendrick Zuck, der 34-jährige Verteidiger des 1. FC Kaiserslautern, riss sich vor wenigen Tagen im Training zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres das Kreuzband. Es ist schwer vorstellbar, dass Kaiserslautern eine Dokumentation über Zucks Rückkehr produziert. Wahrscheinlicher ist, dass er selbst befürchtet, nie wieder Profifußball spielen zu können – ein Gedanke, den laut Studien rund 40 Prozent aller betroffenen Spieler haben.
Eine Studie aus dem Jahr 2021 zeigt einen weiteren interessanten Faktor: 15 Prozent der Kreuzbandverletzungen bei Männern und 21 Prozent bei Frauen treten in Teams auf, die während der Saison ihren Trainer wechseln. Am Sonntag musste Lisandro Martínez von Manchester United mit Verdacht auf einen Kreuzbandriss vom Platz getragen werden – nachdem United mit Ruben Amorim im November einen neuen Trainer verpflichtet hatte. Ein neuer Coach bedeutet, dass die Mannschaft schlecht war. Der neue Trainer ist unter Druck. Er treibt die Spieler an. Die Spieler spüren den Druck und verletzen sich.
Die wirtschaftliche Lage ist durch Ausfälle ebenso düster: Laut dem „Men’s European Injury Index“ kosteten Verletzungen die europäischen Topklubs in dieser Saison fast 780 Millionen Euro. Allein Manchester United zahlte rund 50 Millionen Euro an Gehältern für verletzte Spieler.
Der Verein verliert Geld. Der Verein verliert Spiele. Das Management entlässt den Trainer. Ein neuer Trainer kommt, kauft neue Spieler. Spieler verletzen sich. Der Verein verliert wieder Geld. Der Verein verliert erneut Spiele. Daher die Tränen in den Augen.
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