■ Algerien: Nach dem Mord an Matoub Lounès eskaliert die Lage: Spontane Rebellion
Die Proteste in der Kabylei reißen nicht mehr ab, seit am Donnerstag der beliebte Sänger Matoub Lounès von Islamisten erschossen wurde. Jugendliche errichten in verschiedenen Städten immer wieder Barrikaden und überfallen offizielle Gebäude. Dies ist die größte spontane Rebellion in der Kabylei seit dem „Berberfrühling“ 1980, als die Menschen in der ostalgerischen Region für die Anerkennung ihrer Sprache und für mehr Autonomie mobil machten. Und der Rest des Landes hat solche Demonstrationen nicht mehr gesehen, seit 1988 eine Jugendrevolte mit Schwerpunkt in Algier das Einparteiensystem der FLN zu Fall brachte.
Der Mord an Matoub Lounès mobilisiert nun lang angestaute Aggressionen. Die Menschen in der Kabylei fühlen sich von der Macht in Algier im Stich gelassen. Die dichtbesiedelte Region, in der mehr als ein Sechstel der algerischen Bevölkerung lebt, zählt zu den ärmsten des Landes. Viele junge Menschen wandern ab. Entweder in die Hauptstadt oder gleich nach Europa. Da die Berber den Mächtigen in Algier schon immer als unsichere Kandidaten galten, verspürt niemand großes Interesse, dort zu investieren. Das war in der Kolonialzeit lange so, und sollte sich auch nach der Unabhängigkeit nicht ändern, hatten doch mehr als die Hälfte der Berber bei einem Referendum 1963 die stark zentralistische Verfassung des neuen, unabhängigen Algeriens abgelehnt.
Paradoxerweise entwickelte sich die Kabylei in den 90er Jahren zu einer der Stützen der militärischen Machthaber in Algier. Als die Islamische Heilsfront (FIS) sich überall im Lande die Unzufriedenheit mit dem korrupten Apparat des Einparteiensystems der FLN zunutze machen konnte, wählte die Kabylei mehrheitlich demokratisch – und, was wichtiger war, laizistisch. Aus Angst vor einem religiös-fanatischen Staat unterstützten große Teile der Bevölkerung dann auch den Militärputsch 1992. Und als Teile der islamistischen Bewegung begannen, auf Terror zu setzen, gründeten die Menschen in den Bergdörfern rund um Tizi Ouzou Selbstverteidigungskomitees.
Der Lohn dafür läßt bis heute auf sich warten. Erst in den letzten Jahren erhielten die Berber überhaupt das Recht auf die Benutzung der eigenen Sprache, im öffentlichen Leben und in den staatlichen Medien. Und selbst dieses kleine Zugeständnis soll am kommenden algerischen Nationalfeiertag, dem 5. Juli, aufgehoben werden. Einzige Amtssprache wird Arabisch. Die Kabylen fühlen sich zu Recht hintergangen. Reiner Wandler
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