Aleviten-Protest gegen "Tatort"-Krimi: "Wir haben nicht überreagiert"
Nach heftiger Kritik von Necla Kelek an der alevitischen Gemeinde wehrt sich die. Mürvet Öztürk, Vorsitzende der Alevitischen Frauen, findet die Soziologin ungerecht.
taz: Frau Öztürk, vor drei Wochen demonstrierten 20.000 Aleviten gegen einen "Tatort"-Krimi. Die Gemeinde sah sich verunglimpft und es wurden Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gestellt. Hält die Aufregung noch an?
Mürvet Öztürk: Die Aufregung ist mittlerweile zurückgegangen. Die meisten wollten auch gar keinen unnötigen Streit provozieren, sondern schlichtweg ihre Sensibilität zeigen und diese auch einfordern.
Mürvet Öztürk, geboren 1972, ist seit 2001 Mitglied der Grünen. Im Januar 2008 zog sie in den Wiesbadener Landtag ein, dort war sie bis zuletzt Sprecherin für Integration und Migration.
Die Soziologin Necla Kelek kritisierte in der gestrigen taz, dass der Inzestvorwurf, gegen den sie demonstrieren, auch reale Ursachen habe. Denn bei den Aleviten würden überwiegend Verwandte untereinander heiraten.
Was heißt denn dieses verallgemeinernde "überwiegend"? Es ist dieser Ton, der die Musik macht. Tatsächlich war es in alten patriarchalischen Strukturen nicht selten, dass innerhalb der Verwandtschaft geheiratet wurde, was sie übrigens weltweit auch in anderen Kulturen finden. Es gab aber auch eine Gegenbewegung der jungen Menschen, die gegen diese "Heiratstradition" aufbegehrt und einen Wandel eingeleitet haben. Aber der eigentliche Inzestvorwurf, den es in der türkischen Gesellschaft gegen die Aleviten gibt und der auch im "Tatort" gezeigt wurde, ist ja ein ganz anderer Aspekt.
Welcher ist das?
Dieser lautet, dass Familienmitglieder während der Religionsausübung Inzucht betreiben würden, Geschwister oder Eltern mit ihren Kindern Orgien feiern. Das ist ein historisches Vorurteil, um die Aleviten in der Türkei gesellschaftlich bewusst zu marginalisieren. Wir haben die Gefahr gesehen, dass sich dieses aus der Türkei importierte Vorurteil hier in Deutschland festsetzt und sich manche Sunniten geradezu bestätigt fühlen. Für uns stehen daher Anlass und Aufregung durchaus in einem Verhältnis zueinander.
Hat die Alevitische Gemeinde überreagiert? Necla Kelek findet, mit den lautstarken Demonstrationen wolle man von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der eigenen Gemeinde ablenken.
Wir müssen von gar nichts ablenken und dieser Vorwurf ist völlig haltlos. Das hört sich ja so an, als gebe es in der gesamten Gemeinde sexuellen Missbrauch. Falls es Missbrauchsfälle gibt, dann ist es unsere Aufgabe als Verband, sich auf diese zu konzentrieren und den Betroffenen auch zu helfen, wenn sie es aus eigener Kraft nicht schaffen sollten, sich zu Wehr zu setzen. Aber wie kommt man eigentlich dazu, immer gleich zu ethnisieren und zu verallgemeinern? Diese mangelnde Sachlichkeit und Differenzierung ist ein grundlegendes Problem im Diskurs hierzulande. Aber es ist offenkundig der einfachste Weg, um als von der Öffentlichkeit beglaubigte Expertin Aufmerksamkeit zu bekommen.
Hat Necla Kelek das nötig?
Das weiß ich nicht, aber ich werde sie bei Gelegenheit einmal fragen. Einige Aspekte ihrer Arbeit sind nachvollziehbar und sie weist dabei auf wichtige Probleme hin, bei anderen lässt sie einfach einen Teil weg. Dabei kann man Probleme nur gemeinsam mit den Communities lösen. Dafür muss man diese aber auch erreichen und sie nicht mit Verallgemeinerungen vor den Kopf stoßen. Diese werden dann in der Öffentlichkeit als Expertenmeinung wahrgenommen, daraufhin wird die Gemeinde wieder damit konfrontiert. So entsteht eine Spirale der Unsachlichkeit.
"Islamverbände, Türkenvereine und Aleviten formieren sich. Sie positionieren sich wieder mal als Opfer der deutschen Gesellschaft", kritisiert Necla Kelek. Können Sie das nachvollziehen?
Hier die Aleviten, dort die deutsche Gesellschaft - diese Rechnung ist falsch. Die Aleviten sind nicht Opfer der deutschen Gesellschaft, sie sind Teil der deutschen Gesellschaft. Und wir wollen die Kirche auch mal in Dorf lassen: Wir haben unserem Protest auf demokratische Art und Weise Ausdruck verliehen. Jetzt werden wir ausgerechnet von Frau Kelek auch noch mit den anderen Islamverbänden in einen Topf geworfen. Dabei weiß sie selbst doch sehr gut, dass einige dieser Verbände gerade aufgrund ihres Islam-Verständnisses mit uns gar nichts zu tun haben wollen.
Sie fühlen sich von Necla Kelek also zu Unrecht kritisiert
Noch einmal, sie verallgemeinert viel zu sehr. Sie bedient sich jahrhundertealter Argumente und lässt den Transformationsprozess, den auch Aleviten durchlaufen haben, außer Acht. Schon vor Generationen hat man begonnen, uralte Strukturen, wie etwa die Ehe zwischen Verwandten, aufzubrechen. Ich bin jedenfalls nicht mit meinem Cousin verheiratet. Aber wir wissen, dass es dieses Phänomen gibt, und versuchen hier aufzuklären.
INTERVIEW: CIGDEM AKYOL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers