piwik no script img

Album des Duos Lucy & AaronCut-up mit den losen Fäden

„Lucy & Aaron“ veröffentlichen neuen Experimental-Pop. Dabei entlocken sie Synthesizer und Stimmsample einen regelrechten Schluckauf.

Auch beim Foto Mash-up: Lucrecia Dalt und Aaron Dilloway Foto: Lena Shkoda/Camilla Blake

Es sind gewisse Parallelen in den Heimstudios der kolumbianischen Künstlerin Lucrecia Dalt und ihres US-Kollegen Aaron Dilloway zu entdecken. Neben etlichen Synthesizern und Verstärkern liegen dort eine Reihe Gegenstände und Materialien zum Experimentieren herum.

So kann man Lucrecia Dalt etwa in einem Video von einem Auftritt im Berliner Haus der Kulturen der Welt dabei zusehen, wie sie Signale über Membrane auf ein Metallpapier jagt und auf diese Weise Klänge erzeugt, und auch Aaron Dilloway lässt Interessierte im Netz an seiner Arbeit teilhaben: Während des ersten Lockdowns streamte er eine Performance, bei der Hühner auf Becken, Metallen und Gitarren herumpicken. Interessant, diese Chickensounds aus dem Klanglabor.

Die 41-jährige Dalt und der 45-jährige Dilloway haben nun ein Duo-Album namens „Lucy & Aaron“ aufgenommen. Beide sind hochgeschätzt in der experimentellen Musikszene: Aaron Dilloway ist in der Nähe von Detroit aufgewachsen, bekannt wurde er mit der Band Wolf Eyes, deren Kracheskapaden auf der Bühne für Noise-Fans einer Offenbarung glichen.

2005 verließ er die Band, seither nahm er zahlreiche Soloalben, aber auch diverse Kollaborationen mit anderen Künst­le­r:in­nen auf. Zudem betreibt er das unabhängige Label Hanson Records, auf dem das Album auch veröffentlicht wird.

Field Recordings in Kolumbien

Lucrecia Dalt, die in der Stadt Pereira geboren ist, aber seit einigen Jahren in Berlin lebt, wurde vor allem mit ihren beiden jüngsten Synthie-Alben „Anticlines“ (2018) und „No era sólida“ (2020) international gefeiert. Dalt und Dilloway kennen sich bereits seit zehn Jahren, 2019 haben sie ein Tape veröffentlicht. Und vergangenes Jahr streckten sie bei gemeinsamen Field Recordings die Mikrofone in den kolumbianischen Regenwald und fingen das Zischen, Zirpen und Zwitschern ein.

Das Album

Lucrecia Dalt, Aaron Dilloway: „Lucy & Aaron“ (Hanson Records)

Die Aufnahmen auf „Lucy & Aaron“ halten den Erwartungen, die man an ein solches Projekt haben kann, stand. Das liegt in erster Linie daran, dass die Sounds zwar hochgradig verspielt und verfrickelt klingen, aber immer wieder auch Song­elemente, wiedererkennbare Strukturen und Samples im Mahlstrom zu vernehmen sind.

Wenn man genau hinhört, kann man sogar Spurenelemente von Pop- und Folksongs ausmachen. Im zweiten Stück „Demands of Ordinary Devotion“ hört man zum Beispiel auf einer Ebene repetitive, maschinelle Geräusche, aber darunter liegt eine Gesangsspur Dalts, die auch eine eingängige Hookline in einem Popsong abgegeben hätte.

Ähnlich funktioniert dies im daran anschließenden „Yodeling Slits“, hier bilden Dalts Stimme und die Synthesizer einen melodischen Part, dazu gesellen sich kühle, gleich getaktete Klänge. Auch „Niles Baroque“ und „The Blob“ könnte man im (aller-)weitesten Sinne als Experimental-Pop bezeichnen. Gelegentlich wird die Stimme auch extrem verfremdet wie in „Bordeándola“ (bei dem schätzungsweise Dilloway singt).

Als hätten Synthesizer und Stimmsample Schluckauf

Der Gesang legt sich in dem Stück über aquatisches Geblubber und langsame Synthesizertöne und klingt, als würde man Musik von Tom Waits in falscher Geschwindigkeit abspielen. In „Voyria“ dagegen ertönt hintergründig eine Piano-Melodie und im Vordergrund ein Flattern, in „Tense Cuts“ sind Orgel-Loops zu hören, im „Partnertrack“ „Tender Cuts“ macht es den Anschein, als hätten Synthesizer und Stimmsample einen Schluckauf.

So wie bei den beiden Stücken werden lose Fäden an anderer Stelle des Albums manchmal wieder aufgenommen. „Lucy & Aaron“ ist ein sehr sorgfältig gearbeitetes und durchdachtes Album. Inspiration beziehen beide Mu­si­ke­r:in­nen unter anderem aus der experimentellen Literatur, sie sind große Fans von William S. Burroughs’ und Brion Gysins Cut-up-Methode.

Dieses Prinzip übertragen sie nicht selten auf die eingespielten Sounds. Die aktuelle Musiksoftware, etwa von der Berliner Firma Ableton, ist ja auch fast schon auf solche Techniken ausgelegt.

Eingespielt und produziert hat das Duo die Musik an drei verschiedenen Orten, in Dilloways Wohnort Oberlin, Ohio, in Berlin und New York. Die Produktion ist ebenfalls akribisch, wie sich das für Klangfetischisten gehört. Mit jedem weiteren Hören erschließt sich eine noch tiefer liegende Schicht, ein neues Nebengeräusch, eine weitere Spur.

„Lucy & Aaron“ ist ein nachhaltiges Hörerlebnis. Wer sich für experimentelle Musik interessiert, kommt um diese Musik ohnehin nicht herum.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!