Akustische Ökologie: Das große Ohrensäubern
Wir hören ständig, doch wir bekommen es oft gar nicht richtig mit. Ein wacheres Bewusstsein für Klänge könnte helfen, empfiehlt der Komponist Murray Schafer.
Ob man Winter und Kälte nun mag oder nicht, eines muss man der Witterung lassen: Seit sich in Europa die dicke Schneeschicht ausgebreitet hat, ist alles irgendwie entspannter - von Behinderungen im Verkehr einmal abgesehen. Was am Wetter tatsächlich entspannend ist: Der Schnee schluckt jede Menge Schall, besonders in der Stadt macht sich das bemerkbar. Von den paar Autos, die sich über die Straßen quälen, hört man statt des aggressiven Brummens oft nur noch ein leichtes Rauschen. Auch die übrigen Geräusche hallen nicht mehr so lange nach, stattdessen bekommt man eine Ahnung von Ruhe.
Schnee ist für die Ohren aber nicht nur beruhigend. Sofern man wie der Komponist R. Murray Schafer in Kanada aufgewachsen ist, kann man am Klang der eigenen Schritte auf dem Schnee auch erkennen, wie kalt es ist: "Wenn man Leuten in Ontario Aufnahmen von Schritten im Schnee vorspielt und sie dann nach der Temperatur fragt, können sie sie einem sagen."
Schafer, der aus Ontario stammt, erzählt die Anekdote nicht nur zur Unterhaltung. Über Jahre hinweg hat er mit seinen Kollegen vom "World Soundscape Project" in Kanada und Europa immer wieder Klangaufnahmen gemacht, in Dörfern zum Beispiel, um die dortigen "Soundscapes", Klanglandschaften, wenn man so will, zu dokumentieren - grob gesagt, das, was man dort alles zu hören bekommt.
"Es gab kein Wort für das Hören von Klängen in der Nähe oder Ferne, von menschlichen Geräuschen, Tiergeräuschen oder Maschinengeräuschen. Und wenn einem ein Wort fehlt, um etwas zu beschreiben, dann existiert die Sache auch nicht. Wir mussten uns ein Wort ausdenken, damit die Leute die Landschaft auch hören."
Beim Wort "Soundscape" hat es sich eingebürgert, dass man damit Klanginstallationen meint, bei denen Naturaufnahmen als Ausgangsmaterial dienen. Schafer, der den Begriff der Soundscape in den Sechzigern prägte, versteht darunter etwas viel Grundlegenderes. Für ihn ist es die jeweilige - natürliche wie menschengemachte - akustische Umgebung, in der man sich aufhält. An jedem Ort hört man stets ein ganz bestimmtes Ensemble aus Klängen, die den akustischen Raum um einen herum definieren, bewusst oder unbewusst.
Da gibt es "Keynotes", Grundlaute, die ständig da sind und die den Hintergrund der Klanglandschaft bilden, vor dem man die anderen Klänge wahrnimmt. Das Rauschen der Blätter im Wald, die Brandung des Meers oder das Summen einer Klimaanlage können Grundlaute sein. "Signale" hingegen sind das, was man deutlich im Vordergrund heraushört, eine Sirene etwa oder eine Autohupe. Besonderen Status nehmen schließlich die "Soundmarks", Lautmarken, ein, also Klänge, die einer Gegend ihre akustische Identität verleihen, wie die Melodie der "Dampfuhr" in Vancouver.
Gedanken wie diese stellt Schafer in seinem aus dem World Soundscape Project hervorgegangenen Hauptwerk "The Tuning of the World" vor. Obwohl das Buch schon 1977 erschien, gab es lange Zeit keine vollständige deutsche Übersetzung. Jetzt hat Sabine Breitsameter, Darmstädter Professorin für Sounddesign - ein Fach, das durch die Arbeiten Schafers erst entstand - diese Gründungsschrift der akustischen Ökologie neu übertragen und herausgegeben.
In "Die Ordnung der Klänge", so der deutsche Titel, beschreibt Schafer die ganze Welt als eine große Soundscape, genauer: "eine makrokosmische musikalische Komposition". Das mag esoterischer klingen, als es gemeint ist. Denn Schafer will der Welt keine musikalische Struktur überstülpen. Er radikalisiert vielmehr den Gedanken des Komponisten John Cage, für den alles, was einen Ton von sich gibt, Musik ist.
Die "Musik" der Welt ist daher immer schon am Klingen und in ständiger Veränderung. Und sie hat stets soziale Funktion und Bedeutung, ganz gleich, ob es sich um das Klingeln eines Mobiltelefons, den Schuss eines Gewehrs oder eben Schritte im Schnee handelt. Wie viel man von dieser Musik im Einzelnen mitbekommt, ist eine andere Frage.
Je nachdem, wie stark die Grundlaute einer Umgebung sind, hat man es mit einer "Hi-Fi"- oder "Low-Fi"-Soundscape zu tun: Man kann entweder weit in den Raum hineinhören und einzelne Klänge mühelos unterscheiden - etwa auf dem Land -, oder man bewegt sich in einer "flachen" Soundscape, in der der allgemeine Geräuschpegel so stark ist, dass nur die lautesten Signale durchdringen, differenzierendes Hören hingegen nicht mehr möglich ist. Städte klingen meistens so.
In einer solchen Lo-Fi-Umgebung verlernt man laut Schafer das Hören. Statt die Ohren aufzusperren, verschließt man sie lieber gleich ganz. Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass viele Leute Kopfhörer aufsetzen und den Lärm um sich herum mit Signalen ihrer Wahl übertönen.
Die Balance der Dinge
Hier kommt Schafers Gedanke der "akustischen Ökologie" ins Spiel: "Die Ökologie bemüht sich um eine Balance der Dinge in der Natur, ohne dass eines das andere tötet. Wir können dasselbe auch mit Klängen tun. Wir können jedem Klang seinen Moment zugestehen, in dem er erklingen kann. Aber wir können nicht zulassen, dass bestimmte Klänge die ganze Atmosphäre dominieren und alle anderen abtöten." Die Soundscape ist für Schafer nie bloßes Naturereignis, das man als Hörer widerstandslos zur Kenntnis nehmen muss. Sie ist vielmehr zu so großen Teilen von Menschen gemacht, dass sie immer aktiv gestaltet werden kann. Und dazu fordert Schafer ausdrücklich auf.
Seit mit der Industrialisierung die Maschinengeräusche überhand genommen haben, sieht er die Welt in einen "anhaltenden Lo-Fi-Zustand" abgleiten. Während früher einzelne Geräusche mit Unterbrechung an der Tagesordnung waren, herrscht heute die "statische Welle" vor, ein durchgängiges Brummen. In der Popmusik hat diese Entwicklung längst ihre Entsprechung gefunden: Drone music, bei der ein konstantes Dröhnen die Zuhörer mit tiefen Frequenzen durchmassiert, scheint ein künstlerischer Reflex auf diesen Klangalltag zu sein.
Schafer, der von Popmusik eher wenig hält, setzt lieber auf eine ästhetische Gegenstrategie: gezieltes Akustikdesign. Statt Lärm als zwangsläufige Erscheinung der Moderne in Kauf zu nehmen, will Schafer zwar nicht zurück zur Natur, aber er will die technischen Möglichkeiten der Gegenwart so genutzt wissen, dass es wieder mehr Ruhe gibt. Die Welt muss einfach richtig "gestimmt" oder "getuned" werden, wie es der englische Titel des Buchs programmatisch ankündigt.
Doch um zu wissen, in was für einer akustischen Umwelt man leben möchte, muss man erst einmal hören lernen, um die nötige Sensibilität für wünschenswerte und weniger wünschenswerte Klänge zu entwickeln. Schafer hat dafür einfache Übungen entwickelt, die er "ear cleaning", Ohrenreinigung, nennt: Aufstehen, ohne einen Laut zu machen, und dabei auf die Geräusche achten, die trotzdem entstehen. Oder mit dem Mund das Geräusch nachahmen, wie Papier zerknüllt wird. So lenkt er die Aufmerksamkeit auf einzelne, distinkte Klänge, für die man sonst kein Ohr hat.
Schafer, der in seinem Buch mitunter etwas kulturpessimistisch klingt, sieht die Lage längst nicht mehr so düster: "Ich denke, heutzutage gibt es mehr Menschen, die gegen Lärm ihre Stimme erheben, als vor 20 Jahren. Die Dinge ändern sich. Die Soundscape der Welt verbessert sich, sie wird interessanter. Es gibt nicht nur dieselben Klänge in jedem Land, in jedem Restaurant. Überall auf der Welt gibt es in der Landschaft irgendetwas Einzigartiges, warum sollte man ihre Soundscape nicht auch einzigartig machen?"
Elegant zufallende Autotür
Akustikdesign bedeutet für ihn nicht nur, dass man Sorge trägt, dass Autotüren mit steigendem Preis immer eleganter zuknallen oder Kartoffelchips beim Zerkauen schön knusprig knacken. Akustikdesign ist zunächst vor allem das Vermeiden unnötiger Geräusche und das Erproben ganz neuer Umweltgeräusche.
Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Schafer diese Gedanken nicht aus technischer Perspektive entwickelt hat, sondern aus musikalisch-ästhetischer. Das mag leicht weltfremd und naiv erscheinen; wenn man jedoch bedenkt, dass Lärm die Gesundheit bis hin zu Herzrhythmusstörungen beeinträchtigen kann, wird deutlich, dass Schafer ein durchaus handfestes Problem im Blick hat.
"Klänge können auf viele Weise verwendet werden. Die Leute nehmen Steine und machen daraus Skulpturen. Ich finde, wir haben das Recht, das Gleiche mit Klang zu tun, nach draußen zu gehen und ihn in unsere Musik zu mischen. Noch wichtiger aber ist, da wir in einer Welt leben, in der es vielleicht zu viele Klänge gibt, dass wir darüber nachdenken, die akustische Umwelt neu zu gestalten und zu verbessern. Ich denke, dies war die wichtigste Auswirkung unserer Soundscape-Forschung, dass die Leute jetzt zum Beispiel über die Geräusche von Autohupen nachdenken. Müssen die so laut sein?"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen