Aktivisten über Taube Kinder: „0 bis 3 ist das kritische Alter“
Wenn Kinder sich nicht verstanden fühlen, leidet ihre Entwicklung. Für die meisten Tauben Kinder ist das Alltag, sagt die Deutsche Gehörlosen-Jugend.
wochentaz: Herr Jasko, Herr Richert, Sie prangern an, dass jeden Tag die Menschenrechte Tauber Kinder verletzt werden?
Robert Jasko: Die einzige barrierefreie Sprache für Taube Kinder und Jugendliche ist Gebärdensprache. Im Alltag haben aber nur zehn Prozent einen ausreichenden Zugang zu dieser Sprache. Das sehen wir als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung.
Wie viele betrifft das genau?
Jasko: Wir können das nur schätzen, denn es gibt zu wenig Zahlen und zu wenig Forschung. Rund 25.000 bis 50.000 Kinder und Jugendliche sind schätzungsweise in Deutschland auf Gebärdensprache angewiesen. Fünf bis zehn Prozent dieser Kinder haben Taube Eltern, hatten also von Anfang an Zugang zu direkter Kommunikation über Gebärdensprache. Umgekehrt haben mindestens 90 Prozent der Tauben Kinder hörende Eltern, die in der Regel vorher nie Berührungspunkte mit Tauben Menschen und Gebärdensprache hatten. Das Thema Gebärdensprache kommt bei diesen Kindern oft erst in der Schule auf, das ist natürlich viel zu spät.
Aber alle wissen doch, dass es Gebärdensprache gibt. Seit 2002 ist sie als eigenständige Sprache gesetzlich verankert.
Ricco Richert: Meist wird noch in der Geburtsklinik, bei der U2 am dritten Lebenstag, festgestellt, dass ein Kind Taub ist. Und dann ist es das hörende medizinische Personal, das die Eltern berät. Die sagen dann: „Ihr Kind kann trotzdem sprechen lernen, es gibt ja das Cochlea-Implantat. Wir können Ihr Taubes Kind an die hörende Gesellschaft anpassen.“ Der Fokus liegt auf dem Hören lernen. Aber selbst wenn es mit dem Cochlea-Implantat gut läuft, ist das ein lebenslanger Prozess. Nur wenige Implantierte kommen jemals an das Hörempfinden von Hörenden heran. Da geht viel Zeit verloren, in der das Taube Kind nicht auf direkte Weise mit seinen Eltern kommunizieren kann. Das hat massive Folgen für seine Entwicklung.
Ab wann sollte ein Taubes Kind Zugang zu Gebärdensprache haben?
Jasko: Null bis drei Jahre ist das kritische Alter, in dem Kinder am besten durch Sprache Informationen aufnehmen und ganz schnell verarbeiten. Babys kommunizieren noch vor der Lautsprache visuell. Sie könnten schon ab einem Alter von etwa sechs Monaten Gebärdensprache verarbeiten.
Ricco Richert, 25, ist Mitglied im Bundesjugendvorstand der Deutschen Gehörlosen-Jugend DGJ
Robert Jasko, 36, ist Referent für eigenständige Jugendpolitik und Partizipation bei der DGJ
Was passiert, wenn sie diese Möglichkeit nicht haben?
Jasko: Sie sind von sprachlicher Deprivation betroffen. Kinder, die keinen Zugang zur Erstsprache haben, erleben immer wieder große Frustration und sind in ihrer emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung beeinträchtigt. Der fehlende Zugang zur Erstsprache hat Folgen für den gesamten Lebensweg. Auch in der Schule fehlt dann die Erstsprache, auf der die weitere Kommunikation aufbauen kann.
Wie selbstverständlich ist es, dass in der Schule in Gebärdensprache unterrichtet wird?
Richert: Es gibt in Deutschland drei Schulen, die wirklich bilingualen Unterricht anbieten. Also nicht nur das Fach Gebärdensprache, sondern regulären Unterricht in Gebärdensprache. Ansonsten müssen sich Kinder auch an Schulen für Gehörlose mit ein, zwei Stunden Unterricht in Gebärdensprache begnügen. Das liegt meist daran, dass die Lehrer nicht die nötige Kompetenz haben. Da frage ich mich schon: Was ist das für ein Schulsystem, das diesen Bedarf nicht anerkennt und in dem die Gebärdensprache nicht den gleichen Stellenwert wie gesprochene Sprache bekommt?!
Wie viel Prozent der Tauben Menschen machen in Deutschland Abitur oder studieren?
Jasko: Die Zahlen gibt es nicht, obwohl der Gehörlosenverband immer wieder darauf drängt. Ich glaube, das Kultusministerium möchte gar nicht wissen, wie diese Zahlen aussehen. Dann würden ja die Versäumnisse sichtbar.
Richert: An meiner Schule waren wir etwa 100 Schüler*innen und davon haben dann fünf bis zehn Abitur gemacht.
Ist die Situation in anderen Ländern besser?
Richert: In Neuseeland ist Gebärdensprache als Amtssprache anerkannt. In der Coronazeit zum Beispiel haben Taube Menschen ganz selbstverständlich die gleichen Informationen wie Hörende bekommen, in ihrer eigenen Sprache.
Jasko: Neuseeland ist ein schönes Beispiel. Gebärdensprache wurde gleichzeitig mit der Maori-Sprache als Amtssprache anerkannt, alle Schulen und Behörden müssen sich des Themas annehmen. Eltern bekommen sofort Informationen von Gehörlosenverbänden und haben damit die Möglichkeit, informierte Entscheidungen zu treffen, ob sie für ihr Kind Gebärden- oder Lautsprache oder beides wählen. Island hat ein ähnliches Konzept.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das fordern Sie auch für Deutschland?
Jasko: Wir als Deutsche Gehörlosen-Jugend fordern den frühen Zugang zu Gebärdensprache, vor allem in der Zeit von null bis drei Jahren. Dafür brauchen wir die Finanzierung von Gebärdensprachkursen für die Eltern und Förderangebote. Wenn ein Kind Logopädie braucht, um sprechen zu lernen, gibt es ganz selbstverständlich Finanzierung und Unterstützung. Dasselbe wünschen wir uns auch für die Gebärdensprache. Unsere zweite Forderung ist die Anerkennung von Deutscher Gebärdensprache als offizielle Minderheitensprache.
Welche Unterstützungsangebote gibt es hierzulande für Taube Kinder und Jugendliche?
Richert: Als Deutsche Gehörlosen-Jugend machen wir schon einige Projekte: Das Kindercamp, das Jugendcamp, das Kinderfestival, das Jugendfestival. Das sind Angebote, die wirklich überrannt werden, die sind immer schnell ausverkauft. Daran sieht man, wie hoch der Bedarf ist. Leider ist es so, dass die Camps einmal im Jahr sind und die Festivals nur alle zwei bis fünf Jahre. Die Freizeitangebote sind sehr begrenzt.
Jasko: Es gibt jetzt auch die neue Antidiskriminierungsberatungsstelle für junge Taube Betroffene, auch da ist der Bedarf enorm hoch und kann nicht gedeckt werden. Die sprachliche Deprivation bringt außerdem oft psychische Probleme mit sich. Aber auch im Bereich Psychotherapie ist das Angebot in Gebärdensprache viel zu gering.
Ist das nicht ein Teufelskreis: Ist der Zugang zu Sprache und akademischer Bildung erschwert, gibt es kaum Taube Psycholog*innen …
Jasko: Das ist die große Herausforderung. Eine zusätzliche ist die Ausdruckskompetenz: Viele Taube Personen können aufgrund sprachlicher Deprivation ihr Inneres nicht nach außen tragen – weder in Gebärdensprache noch in Deutsch. Weil der Wortschatz einfach zu klein ist. Nach meiner Einschätzung ist nur ein ganz kleiner Teil der Community erfolgreich in der Verwirklichung seiner Möglichkeiten – vielleicht zwei Prozent.
Gehören Sie zu diesen wenigen Privilegierten und können deshalb hier sitzen und politische Arbeit machen?
Richert: Das würde ich schon sagen. Ich komme aus einer Tauben Familie und war auf einer guten Schule. Ich hatte ein starkes Umfeld und war bei vielen Angeboten der Gehörlosen-Jugend dabei. Ich konnte diese Angebote auch nutzen, weil meine Familie die Mittel dazu hatte. Vor zwei Jahren war ich in Dänemark auf einer internationalen Hochschule, wo ich nochmal den Austausch mit Tauben Menschen aus anderen Ländern hatte. Das sind Privilegien, die mich in meiner Sprache und meiner Position gefestigt haben.
Jasko: Auch ich würde sagen, ich gehöre zu den wenigen Prozent. Ich komme zwar aus einer hörenden Familie, aber meine Mutter ist Pädagogin und kannte sich mit Spracherziehung aus. Meine gute Schriftkompetenz habe ich komplett ihr zu verdanken. In der Schule wurde ich nur oral unterrichtet, also ohne Gebärdensprache. Ich habe immer wieder ganz viel verpasst. Als ich im Studium zum ersten Mal Gebärdensprachdolmetschung und damit wirklich vollen Zugang zu den Unterrichtsinhalten hatte, war das für mich ein augenöffnender Moment. Ich war oder bin auf jeden Fall von sprachlicher Deprivation betroffen, aber nicht in dem Maße wie die meisten anderen.
In der Öffentlichkeit stehen die wenigen Tauben Menschen, die dies trotz der Umstände geschafft haben, und die anderen bleiben unsichtbar?
Richert: Im Grunde ist das so, und ich würde gerne noch betonen, dass es in der Tauben Community noch einmal Minderheiten gibt. Wir beide sind jetzt zwei weiße Personen. Es gibt noch einmal mehr Hürden, wenn eine Person Taub ist und vielleicht Schwarz oder Queer.
Wir sprechen die ganze Zeit von Tauben Menschen, aber Ihr Verband heißt Gehörlosen-Jugend. Gibt es hier eine sprachliche Emanzipation?
Jasko: Ganz früher gab es das Wort „Taubstumm“. Das wird nicht mehr verwendet, weil es einfach diskriminierend ist. Dann wurde gehörlos genutzt. Seit ein paar Jahren gibt es ein neues Bewusstsein, dass bei dem Begriff „gehörlos“ vor allem das Defizit und die Sichtweise der Hörenden im Vordergrund steht. In der Community wird darüber viel diskutiert, es gibt unterschiedliche Meinungen. Vor allem die Jüngeren bevorzugen den Begriff Taub, um sich vom Fokus auf das Hören zu lösen. Wir schreiben den Begriff inzwischen auch groß, weil „Taub“ für uns kein neutrales Adjektiv für einen medizinisch messbaren Hörstatus, sondern eine historische, politische und soziale Identität ist. Diese Diskussionen müssen aber erst einmal in der Politik ankommen, bevor wir als Verband unseren Namen ändern können.
Apropos Politik: Bald sind Landtagswahlen, nächstes Jahr die Bundestagswahl.
Richert: Das sind auch für uns wichtige Wahlen und es gibt nur sehr wenige Parteien, die Informationen in Gebärdensprache bereitstellen. Wie sollen sich Taube Menschen informieren?
Viele denken vielleicht, Taube Personen können doch lesen?
Jasko: Da sind wir wieder beim Thema sprachliche Deprivation. Es ist eine typische Annahme der Hörenden, dass Taube Menschen im Netz oder so keine Gebärdensprache brauchen, sie könnten doch einfach lesen. Aber die deutsche Schriftsprache ist für Taube Menschen eine Fremdsprache, das ist vielen noch immer nicht bewusst. Hat ein Kind keinen Zugang zur Erstsprache, dann hat es auch keinen Zugang zur deutschen Schriftsprache.
Dieses Interview wurde mit Gebärdensprachdolmetschung geführt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren