Aktivist wegen Mundraub verurteilt: 125 Euro für Kekse aus der Tonne
Weil er Spekulatius aus der Mülltonne einer Konditorei genommen hat, wird ein Robin-Wood-Aktivist vom Amtsgericht Lüneburg wegen Hausfriedensbruchs verurteilt.
LÜNEBURG taz | Ganze vier Prozesstage hat er gedauert, am Montagabend wurde im so genannten Keks-Prozess ein Urteil gesprochen. Dabei spielten die Kekse, die der Angeklagte Karsten Hilsen aus der Mülltonne einer Großkonditorei geklaut haben soll, nur eine Nebenrolle. Hilsen musste sich wegen Hausfriedensbruchs verantworten und soll jetzt 25 Tagessätze à fünf Euro zahlen. Zur Urteilsverkündung ist Hilsen, der bisher nicht vorbestraft war, nicht mehr erschienen - aus Protest. Denn für ihn war von Anfang an klar, dass das Urteil politisch motiviert sei.
Es ist ein Sonntag im August. Karsten Hilsen und ein Freund fahren mit dem Rad durch das Lüneburger Industriegebiet. Auf einem menschenleeren Hinterhof der Konditoreifabrik Scholze stehen riesige Müllcontainer. Die beiden betreten das Gelände durch ein offen stehendes Tor, so wird es Hilsen später aussagen. Hilsen nimmt einen Eimer voll pappweicher Spekulatius aus der Tonne, sein Freund eine abgelaufene Kekspackung.
Wenige Minuten später werden sie von privaten Wachmännern aufgehalten, die die Polizei rufen. Sowohl die Wachmänner als auch die Polizei sagen als Zeugen vor Gericht aus, dass sie sich nicht sicher sind, ob das Tor geschlossen war. Nach Aussage der Polizei wäre Hilsen nicht festgenommen worden, hätte sie abschätzen können, dass die Kekse nur Abfall waren.
Angeklagt wird Hilsen wegen Diebstahls und Hausfriedensbruch. Weil seine Wahlverteidigerin, die Umweltaktivistin Cécile Lecomte, nicht zugelassen wird, verteidigt er sich selbst. Sie hatte sich, selbst sehr prozesserfahren, zur Verfügung gestellt, das Gericht hatte sie jedoch abgelehnt. Ein chronisches Leiden, Rheuma, könnte sie an der Ausübung ihrer Aufgabe als Verteidigerin hindern, so die Begründung.
Das Verfahren gegen seinen Freund wird eingestellt. Für Hilsen der klare Beweis: Er sei ein Opfer der Justiz, der "Staatsfeind Nummer eins". Hilsen wirkt er harmlos, doch der erste Eindruck täuscht: Er beherrscht das Justiz-Schauspiel, verliest seitenlange Beschwerden, stellt Anträge auf Pausen, wirft der Richterin Katrin Lindner Befangenheit vor.
Seit über 20 Jahren ist Hilsen der Staatsanwaltschaft Lüneburg bekannt: Der Polit-Aktivist hat mehrere Aktionen gegen Castortransporte angeführt und ist bei der Umweltorganisation Robin Wood aktiv. Heute lebt der 51-Jährige am Existenzminimum in einem Wohnwagen, Hartz IV wurde ihm gestrichen. Aus Geldnot und ideeller Überzeugung ist er ein Anhänger des Containerns, einer Protestbewegung gegen die Wegwerf- und Konsumgesellschaft. Er ernährt sich vorwiegend von abgelaufenen Lebensmitteln: "Ich käme nicht über die Runden, wenn ich mein Essen im Supermarkt kaufen würde."
Die Rechtslage beim Containern ist bislang ungeklärt. Gehört der Abfall demjenigen, der ihn weggeworfen hat, der Abfallwirtschaft oder jedem? In den meisten Fällen wurden Verfahren gegen Mülldiebe eingestellt, denn Diebstahl von Waren mit "geringem bis nicht vorhandenem Warenwert" wird nach Paragraf 248 des Strafgesetzbuches nur auf Antrag verfolgt - solange keine Schlösser oder Ähnliches beschädigt wurden.
Während des Prozesses sind die Sicherheitsvorkehrungen hoch: Taschen werden durchsucht, die Besucher abgetastet. Hilsen wird unterstützt von bis zu 20 Mitstreitern mit Transparenten, etwa fünf Justizbeamte sind ständig im Gerichtssaal anwesend. Immer wieder dringen Husten, Räuspern und Gelächter aus den Publikumsreihen nach vorn, immer wieder werden Aktivisten des Saals verwiesen.
Unter ihnen ist auch Lecomte. Als Zuschauerin muss sie mehrere Male wegen Störung den Gerichtssaal verlassen - Lecomte weigert sich und wird von Justizbeamten hinausgetragen. Daraufhin klettert sie von außen die Gerichtsfassade hoch und klopft an das Fenster. Sie muss ein Ordnungsgeld in Höhe von 150 Euro zahlen. Auch für Hilsen wird wiederholte Male ein Ordnungsgeld festgesetzt.
Für Hilsen, der in seinem Schlussvortrag für einen Freispruch plädierte, stand das Urteil schon vor der Verkündung fest: Am Montagvormittag soll er Einsicht in die Prozessakte genommen und einen Vermerk der Richterin entdeckt haben. Diese soll nach Gründen für eine Verurteilung trotz offenen Tors recherchiert haben. In der Begründung ihres Urteils sagte sie, dass das Betreten eines offenen Geländes zur Nachtzeit durchaus als Hausfriedensbruch ausgelegt werden könne. Die Höhe der Geldstrafe begründete sie damit, dass der Angeklagte "unbelehrbar" und "uneinsichtig" sei.
Nach der Urteilsverkündung gab es reichlich Kritik von seinen Unterstützern. "Was ist schon Müll? Lebensmittelvernichtung stoppen", stand auf ihren Transparenten. Lecomte bezweifelt das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, da bei der Tat keinerlei Schaden entstanden sei. "Wenn weniger Müll entsteht, sinken sogar die Müllgebühren", sagt sie. Und unbelehrbar sei wohl eher derjenige, der zur Wegwerfgesellschaft beitrage.
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