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Akademiker an der Ecke

Profi-Musiker aus Osteuropa können auf Hamburgs Straßen doppelt so viel verdienen wie zu Hause. Doch manchen plagt das Heimweh  ■ Von Volker Finis

Igor legt sich ins Zeug, denn der Zeitpunkt ist gut. Die Sonne scheint, die Leute haben Feierabend und strömen in die Spitaler Straße zum Einkaufen. Mit Artem und Anatol stimmt Igor ein russisches Volkslied an: Schmachtende Melodien klingen durch die Fußgängerzone. Anatols hüfthohe Kontrabass-Balalaika ist ein echter Hingucker. Rasch bilden die Passanten einen Halbkreis, es klingelt im Koffer. „An Tagen wie heute sind 20 Euro für jeden von uns drin“, erzählt Igor, „fast doppelt so viel, als wenn ich in Russland normal arbeiten würde“.

Immer mehr Profi-Musiker aus Osteuropa bessern als Straßenmusiker in Deutschland ihren Lebensunterhalt auf, weil sie in ihrer Heimat keine Festanstellung finden oder von ihrem Gehalt nur gerade so leben können. Wie viele allein in der Hansestadt fiedeln, zupfen oder singen, weiß niemand genau. „An sonnigen Tagen stehen bestimmt hundert Musiker in der Innenstadt“, sagt Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirksamts Mitte.

Die meisten von ihnen haben ein Musik-Studium oder gar ein Konzert-Examen in der Tasche. Die Hauptherkunftsländer sind Russland, Weißrussland und die Ukraine. Fred-Heino Oberender vom Außendienst des Bauamts, das für Straßenmusik zuständig zeichnet, erklärt, warum: “In Hamburg leben viele Russen, bei denen die Musiker günstig unterkommen können. Außerdem braucht man mit dem Bus von der Ukraine nach Deutschland nur 24 Stunden.“

Igor wohnt bei Freunden an der Sternschanze. Der 28-Jährige hat vor zwei Jahren sein Akkordeon-Studium im russischen Nishni Nowgorod abgeschlossen und seitdem gelegentlich Musik in Schulen unterrichtet – für 150 Euro im Monat. Eingereist ist er wie die meisten seiner Kollegen per Touristenvisum, gültig für drei Monate. Nach dessen Ablauf Mitte Juni kehrt er wieder zurück in seine Heimatstadt. Schwer gefallen ist Igor der Abschied auf Zeit nicht, zumal er gemeinsam mit Artem und Anatol gekommen ist und weder Frau noch Kinder in Russland zurück lässt.

Ganz anders Leonid, der auf dem Rathausmarkt Arien schmettert: „Sicher, ich vermisse meine Frau und meine beiden Söhne. Aber was soll ich machen? Als Künstler findet man in Russland zurzeit kaum Arbeit.“ Sein Zuhause ist St. Pe-tersburg. Vor knapp zehn Jahren noch hat er auf den Opernbühnen Europas den „Faust“ von Gounod gesungen oder Tschaikowskis „Eugen Onegin“. Heute ist ihm seine Lage gegenüber den Ex-Kollegen peinlich. „Aber immerhin gehen die Hamburger Behörden fair mit uns um.“

Fünf Mal täglich geht Oberender durch die Innenstadt und drückt jedem Musiker ein Merkblatt mit den amtlichen Spielregeln in die Hand: Niemand darf vor 11.00 Uhr morgens losfiedeln und länger als 30 Minuten an einem Ort bleiben. Auch nicht mit Diplom.

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