: Aids-Politik mit kranken Zahlen
Ob es mehr oder weniger HIV-Infizierungen in Hamburg gibt, das weiß niemand so genau. Auch wenn manche so tun, als ob ■ Von Sandra Wilsdorf
Hamburg liegt voll im positiven Trend. Man könnte auch sagen: Es gibt so viele Zahlen wie Wünsche, was sie aussagen sollen. Oder auch: Es gibt mehr Zahlen als für eine vernünftige Aussage taugen. Es geht um die HIV-Infektionen in Hamburg. Aber während dem einzelnen HIV-Positiven die Statistik vermutlich egal ist, misst die Politik an ihr Erfolge oder Misserfolge.
Gestern enthüllte Farid Müller, schwulenpolitischer Sprecher der GAL: Anders als in der Statistik des Robert-Koch-Institutes angegeben, hätten sich 1999 in Hamburg nicht 100, sondern 461 Menschen mit HIV infiziert. Das gehe aus einer Antwort des Senats auf eine große Anfrage der GAL hervor. Müller schließt daraus: „Nicht immer weniger, sondern immer mehr Menschen infizieren sich mit dem AIDS-Virus.“ In der Diskrepanz zwischen 100 und 461 sieht er eine „enorme Steigerung, die Hamburg zum traurigen Spitzenreiter in Deutschland macht“. Als Konsequenzen fordert er eine schnelle und breite Aufklärungskampagne und gesicherte Daten.
Wie die unterschiedlichen Zahlen zustande kommen, kann er nur vermuten: „Das Robert-Koch-Institut in Berlin hat zugegeben, dass die Statistik fehlerhaft ist.“ In Gesprächen habe er erfahren, dass einige Hamburger Labore die positiven Testergebnisse gar nicht oder unvollständig melden. Allerdings hat Müller keine Hinweise darauf, dass das in vorangegangenen Jahren auch schon so war. Deshalb ist gar keine Aussage darüber zu treffen, ob es mehr oder weniger oder gleich viele HIV-Infektionen gibt.
Sozialsenatorin Karin Roth (SPD) wiederum nutzt die letzte Landespressekonferenz vor dem 1. Dezember, dem Welt-AIDS-Tag, um auf die nach ihrer Berechnung sinkende Zahl der HIV-Infizierungen hinzuweisen. Sie lobt die angeblich erfolgreichen Kampagnen ihrer Behörde, sagt aber auch: „Hamburg setzt den Kampf gegen AIDS fort.“ Sie spricht von etwa 200 Neuinfektionen pro Jahr. Noch eine neue Zahl, die kommt aus dem Gewohnheitsbauch. „Weil Hamburg immer etwa zehn Prozent der Bundeszahlen hat.“ Die andere Zahl, die 462, komme auch vom Robert-Koch-Institut. So wie die 100.
Diese viereinhalbfach unterschiedliche Sicht der Dinge erklärt Katharina Juhl, Leiterin der Beratungsstelle für Gesundheit, folgendermaßen: „Es gibt in Hamburg das Problem der unerkannten Doppelmeldungen, denn weil die Tests anonym abgegeben werden, ist oft nur die Postleitzahl des einsendenden Labors bekannt.“ Aus dem Umland würden viele in Hamburg einen zweiten Test machen. Wie das zu einer Verdoppelung oder Vervierfachung führen kann? Wie damit in vergangenen Jahren umgegangen wurde? Wie das andere Bundesländer machen? Viele Fragen. Aber Senatorin Roth weiß eines: „Auf jeden Fall gehen die Zahlen zurück.“ So soll es sein.
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