Afghanistan: "Wir brauchen mehr Geduld"
Solange Afghanistan instabil ist, muss der Westen bleiben, sagt der Ex-Sponti und jetzige UN-Beauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, im taz-Interview.
taz: Herr Koenigs, scheitert der Westen in Afghanistan?
Tom Koenigs: Wir sind mit einer Aufstandsbewegung konfrontiert worden, mit der keiner gerechnet hat. Als ich nach Afghanistan kam, galten die Warlords im Norden als das Problem. Der Süden wurde nicht als Problemzone erkannt. Dass wir es mit einer Aufstandsbewegung zu tun haben, die in der militant islamistischen Szene Zentralasiens verwurzelt ist und bei der Pakistan eine entscheidende Rolle spielt, das haben wir unterschätzt. Mit dieser Aufstandsbewegung können nur die Afghanen selber fertig werden. Wir können ihnen für eine gewisse Zeit einen Schutzraum bieten, damit sie nicht erneut von den Taliban überrannt werden.
TOM KOENIGS, 63, ist seit Februar 2006 Sonderbeauftragter der UN für die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (Unama). Zuvor war er seit 2005 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung. Der grüne Politiker, Vertrauter des ehemaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer, war für die UN bereits von 1999 bis 2005 tätig. Als stellvertretender Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs im Kosovo war er für den Aufbau der örtlichen Zivilverwaltung zuständig. 2002 wurde Koenigs Leiter der UN-Mission Minugua in Guatemala.
Viele fordern einen Strategiewechsel - weg vom Primat des Militärischen, hin zu mehr zivilen Anstrengungen. Besonders die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom steht derzeit in der Kritik. Sind diese Forderungen vereinbar mit den Interessen der USA am Hindukusch?
Zunächst mal muss man anerkennen, dass die Hälfte der Isaf-Soldaten Amerikaner sind und dass mehr als die Hälfte des Geldes aus den USA kommt. Die Beteiligten in "böse Amerikaner" und "gute Europäer" zu teilen, bringt uns nicht weiter. Die USA sind so dominant, weil die Europäer sich nicht stärker engagieren wollen. Die EU schickt 160 Polizeiausbilder. Wir brauchen aber 1.600, und die Amerikaner werden sie auch schicken. Also spielen hier wieder die Amerikaner die entscheidende Rolle, sie sind quasi die Hauptaktionäre. Wenn man daran etwas ändern will, muss man sich stärker engagieren.
Wie kann man denn überhaupt eine Wiederaufbaustrategie mit einer Bombardierungsstrategie vereinen?
Die brutalen Fakten sind nun mal leider auch, dass die Aufständischen Schulen abbrennen. Und dass die Aufständischen demokratische Verwaltungen überrennen und deren Vertreter umbringen. Dass eine ganze Welle von Selbstmordattentätern übers Land kommt und vor allem Zivilisten in Mitleidenschaft ziehen. Darauf kann man nicht nur mit guten Worten und Aufbautaten reagieren. Einen Krieg am Boden kann sich mit den begrenzten Truppen aber niemand leisten. Deshalb braucht Afghanistan auch die Luftunterstützung.
Die westlichen demokratischen Gesellschaften sind bei Auslandseinsätzen ihrer Soldaten auf kurze Zeiträume eingestellt. Zwar werden im Fall von Afghanistan jährlich neue Mandate beschlossen, aber es sieht nach einem zeitlich unbeschränkten Einsatz aus. Kann eine Demokratie auf Dauer eine solche Unsicherheit ertragen?
Jede Demokratie muss Maßnahmen beschließen, die einen langfristigen Horizont haben.
Aber doch nicht im militärischen Fall.
Auch im militärischen Fall. Wir müssen so lange bleiben, wie die Region so instabil ist, wie sie es im Augenblick ist und so lange, bis die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sind, ihre Sicherheit selbst zu garantieren. Den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei ist man in den ersten fünf Jahren in Unkenntnis der Regenerationsfähigkeit der Taliban viel zu langsam angegangen.
Unterschätzt hat man offenbar auch das Problem des Drogenanbaus.
Die Polizei braucht im Kampf gegen Drogenanbau und Drogenhandel energischere Unterstützung. Es wäre vernünftig, wenn wir im Stationierungsgebiet der Deutschen im Norden im Kampf gegen die Drogenwirtschaft neue Durchsetzungsformen des Rechtsstaates finden. Vor drei Jahren hatten wir 24 drogenfreie Provinzen, jetzt haben wir noch 8. Hätten wir damals viel stärker auf die Stabilisierung des Erreichten gesetzt, wären wir heute schon viel weiter.
Heißt das, Sie plädieren für ein robusteres Mandat der deutschen Soldaten in puncto Drogenbekämpfung?
Ich finde, alle Teile von Isaf sollten bereit sein, die Polizei in ihrem Kampf gegen jede Art von Kriminalität mit allen Kräften zu unterstützen, auch mit der Waffe.
Wie erfolgreich ist die Strategie der afghanischen Regierung, die Aufstandsbewegung zu spalten, indem man mit Teilen von ihr verhandelt?
Militärisch allein ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Man muss mit Teilen dieser Aufstandsbewegung reden, wo immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Die Taliban sind keine Kaderorganisation, wo oben der Mullah Omar sitzt und unten jeder gehorcht. Es gibt immer Gesprächspartner, die integrierbar sind. Bisher gelang das der afghanischen Regierung nur partiell. Die Verhandlungstür muss nach allen Seiten offen stehen, und man muss viel stärker den lokalen Gegebenheiten Rechnung tragen. Viele Konflikte in Afghanistan sind eigentlich Stammesfehden oder Streitigkeiten zwischen örtlichen Größen.
Fällt hier nicht der internationalen Gemeinschaft auf die Füße, dass sie von Anfang an die Entwaffnung von Milizen nicht energisch genug vorangetrieben hat?
Das hätte damals vielleicht schon zu einer bewaffneten Auseinandersetzung und hohen Verlusten geführt. Man hätte eine zusätzliche Polarisierung riskiert. Im Nachhinein betrachtet weiß ich nicht, ob das richtig war. Gegenwärtig ist es natürlich schwierig, Leuten, die sagen, wir haben gegen die Taliban gekämpft und auch gegen die Taliban gewonnen und ihr kriegt im Süden keine Ordnung hin, zu sagen: Ihr müsst die Waffen abgeben. Die Stimmung in der Gesellschaft macht das nicht besonders plausibel.
Auch die Justizreform gilt als Beispiel für schwere Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft .
Hier liegen wir in der Tat weit zurück. Die Menschen vermissen Rechtssicherheit. Solange staatliche Gerichte ineffizient und korrupt sind, sagen die Leute: "Da geh ich lieber zum Mullah." Aber Rechtssicherheit muss auch durchgesetzt werden, auch gegenüber dem organisierten Verbrechen. Ohne eine entsprechende Zahl an Sicherheitskräften geht das nicht. Auch hier wird man um eine militärische Unterstützung im Hintergrund nicht herumkommen.
Muss man - angesichts dessen, dass außergerichtliche Konfliktlösungen in Stammesgesellschaften wie Afghanistan die Regel sind - nicht konstatieren, dass man keiner Gesellschaft einen Rechtsstaat von außen überstülpen kann?
Nein. Die entscheidende Errungenschaft dieser Intervention ist eine allgemein anerkannte Verfassung, die den Rechtsstaat definiert. Er fußt sowohl auf religiösem Recht als auch auf westlichem Recht. Das drückt sich im Kompromiss der "islamischen Republik" aus. Von allen Afghanen wird die Verfassung als der entscheidende Fortschritt gewertet. Auch informelle Formen des Interessenausgleichs sind Teil dieses Rechtssystems - wie die Verhandlungen mit Stämmen. Wir haben das vielleicht zu lange unterschätzt, dass es zum Beispiel Älteste gibt, die die Sicherheit von Entwicklungsprojekten effektiver garantieren können als zentralstaatliche Interventionen. Hier werden wir stärkere Kompromisse zugunsten dezentraler Strukturen machen müssen.
Der Glaube der Afghanen in ihren neuen Rechtsstaat ist auch dadurch gehörig erschüttert worden, dass die alten Kriegsverbrecher an entscheidenden Stellen sitzen.
Es sind viele Fortschritte, die wir uns wünschen, noch nicht gemacht. Dass nach der ersten Wahl in jedem Postkonfliktstaat die Protagonisten des Konfliktes im Parlament sitzen, ist ein weltweit zu beobachtendes Faktum. Dass es der Zivilgesellschaft schrittweise gelingt, sie aus den politischen Machtpositionen zu drängen, ist eine andere Erfahrung. Wir brauchen mehr strategische Geduld. Ich hätte es auch gern alles schneller.
Das Amnestiegesetz, das die Warlords für sich beschlossen haben, wird es der Zivilgesellschaft aber nicht gerade erleichtern, die Kriegsfürsten zu entmachten. Im Gegenteil: Eine kritische Abgeordnete wurde nach ihrem Protest für die ganze laufende Legislaturperiode aus dem Parlament ausgeschlossen.
Das muss natürlich ausgezankt werden. Das sind Prozesse, mit denen man rechnen konnte. Das Amnestiegesetz ist aus einem Gefühl der Bedrohung - auch durch Aktionen der Vereinten Nationen - entstanden, die die Warlords empfunden haben. Dennoch sollte das Gesetz ursprünglich viel weiter gehen, wir haben dann mit der Zivilgesellschaft noch versucht, Grenzen einzuziehen. Das Gesetz ist zweifellos ein Rückschritt. Es ist jedoch in Afghanistan derzeit nicht möglich, die Kriegsverbrecher der Vergangenheit vor Gericht zu bringen. In Guatemala war es auch 20 Jahre später noch nicht möglich. In Argentinien wird es jetzt nach 23 Jahren möglich. In Deutschland hat es 50 Jahre gedauert.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich langfristig die Maschen des zivilen Aufbaus auflösen durch Erfolge einer Aufstandsbewegung, die sich mit geografisch begrenzten Befriedungskonzepten überhaupt nicht eindämmen lässt, weil sie ihrem ganzen Charakter nach die Region betrifft.
Die Gefahr besteht zweifellos. Aber für eine erfolgreiche Aufstandsbewegung braucht man dreierlei. Erstens einen charismatischen Führer, zweitens eine Ideologie, die die Massen erfasst und drittens ein Hinterland. Die Taliban haben in Afghanistan keinen überzeugenden Führer - Mullah Omar ist ein Obskurant. Sie haben keine Ideologie, die in irgendeiner Weise Zukunft verspricht. Sie sind weder in Afghanistan noch in Pakistan populär. Dort haben sie zwar ein Hinterland gefunden, aber sie sind schwach. Deswegen wird es den Afghanen auch gelingen, sie zu besiegen.
INTERVIEW: ANETT KELLER UND CHRISTIAN SEMLER
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