Afghanische Drogenökonomie: In der Opiumhölle
Die umkämpfte südafghanische Provinz Helmand ist das größte Mohnanbaugebiet der Welt. Sogar die internationalen Gelder für die Drogenbekämpfung werden Teil der Drogenökonomie.
Irgendwann im Mai 2008 in Afghanistan rief ein Bekannter an - nennen wir ihn Gul Mohammed -, der früher einmal Bürgermeister einer Kleinstadt in der Provinz Urusgan gewesen war. Er sei in Helmand und brauche dringend Geld. Ob ich ihm wenigstens die PIN-Nummer einer Telefonkarte simsen könne. Erst später erzählte er genauer, was vorgefallen war: Inzwischen arbeitslos, hatte er sich als Saisonarbeiter beim "Nesch" verdingt - Nesch ist das Pashto-Wort für Mohnernte. Auf dem Rückweg war Gul Mohammed überfallen und um den Verdienst seiner Arbeit erleichtert worden.
Nirgendwo wächst so viel Opiummohn wie in Helmand: Ungefähr 45 Prozent der Weltproduktion, die zu neun Zehnteln aus Afghanistan kommt. Tagelöhner ritzen vorsichtig die abgeblühten Kapseln mit kleinen, sichelförmigen Messern an, sodass das harzartige Rohopium austritt und gerinnt. Am nächsten Tag können sie es abschaben und verpacken, das Ganze für bis zu 15 Dollar am Tag. Das ist nicht viel, aber genug für ein bisschen Luxus: ein Motorrad, einen Kühlschrank oder einen Dieselgenerator. Schüler sparen beim Nesch oft für Fahrräder. Das braune Zeug hält sich jahrelang, auch über Perioden des Preisverfalls wie derzeit.
So wie Gul Mohammed verdingen sich alljährlich Tausende bei der Mohnernte. Das Personal in den Behörden Südafghanistans dünnt dann auffällig aus, viele Schulen stehen leer. Lehrer und Schüler gehen gleichermaßen Geld verdienen. Die Leute aus Urusgan, Helmand und benachbarten Gegenden gelten als Spezialisten und werden deshalb händeringend in Provinzen gesucht, wo der Opiumanbau noch jung ist. Selbst der Krieg flaut zur Erntezeit ab. Schließlich sind die meisten Taliban Teilzeitkämpfer und müssen sich zwischendurch um ihre Felder kümmern.
Zugleich ist die Kontrolle über die Mohnanbaugebiete Helmands von größter strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Auch deshalb wird derzeit am Helmand-Fluss um Mardscha und Nad Ali gekämpft. "Als die Taliban 2006 die Kontrolle übernahmen, sind die Bauern zum Mohnanbau übergegangen, und die Taliban füllen sich damit ihre Taschen", erklärte ein anonymer afghanischer Regierungsbeamter Anfang der Woche einer Washingtoner Zeitung. "Sie benutzen das Geld, um Training, Waffen und Rekruten zu beschaffen. Mardscha einzunehmen, wird ein großer Schlag gegen sie sein."
Der Mann sagt nur die halbe Wahrheit. Ganz sicher sind Drogen eine der Haupteinnahmequellen der Taliban. Aber vom Gesamtwert der afghanischen Rohopiumernte, die im Jahr 2008 - aus dem die letzten Zahlen stammen - auf 7.700 Tonnen mit einem Exportwert von 3,4 Milliarden Dollar geschätzt wurde -, gehen nach UN- und US-Angaben nur 70 bis 400 Millionen an die Aufständischen.
Allerdings streiten sich die Experten, ob Drogengelder tatsächlich die Einnahmequelle Nummer eins für die Radikalislamisten sind oder nicht doch die Spenden, die Privatleute in Moscheen am Persisch-Arabischen Golf für sie sammeln. Vielleicht ist das Aufkommen aus den Steuern noch höher, die die Taliban - die sich immer stärker als legitime Regierung darstellen - in den von ihnen kontrollierten Gebieten eintreiben. Betroffen sind Basarhändler wie afghanische Firmen, die Verträge mit westlichen Gebern schließen, und Staatsangestellte, die einen Teil ihres Gehalts abgeben müssen.
Das eigentliche Geschäft mit den Drogengeldern wird auf Regierungsseite gemacht, aber natürlich nicht offiziell. Dort verdient man oft doppelt und dreifach. Zum einen lassen sich örtliche Amtsträger dafür bezahlen, bestimmte Bauern und Händler von der staatlich angeordneten Kampagne zur Mohnvernichtung auszunehmen. Bauern aus Helmand schilderten Lokalreportern, wie das geht: "Wir haben 7.500 Afghani (150 Dollar) pro Hektar an die Polizei gezahlt, damit sie unseren Mohn nicht zerstört. Jetzt bezahlen wir die Verwaltung dafür, dass sie uns ungestört unsere Produkte verkaufen lässt: mit 1.100 Gramm Opiumpaste pro Hektar." Das ist relativ billig, denn ein Hektar bringt 50 bis 60 Kilo. "Der Polizeikommandeur hat uns gesagt, dass er uns, wenn wir nicht zu einer Übereinkunft kämen, die gesamte Paste gewaltsam abnehmen würde."
Die Polizisten zahlen einen Teil des Geldes an ihre Vorgesetzten, bis hinauf zum Polizeichef. Deshalb werden solche Posten gerade in Südafghanistans Opiumprovinzen - aber auch an den Schmuggelrouten im Norden, zum Beispiel in Kundus - gegen besonders hohe Schmiergelder vergeben. Bei diesem Geschäft tat sich besonders der frühere Innenminister Zarar Moqbel hervor. Dennoch hat ihn Präsident Hamid Karsai gerade zum neuen Minister für Drogenbekämpfung ernannt.
Zudem wird bei der Abrechnung kräftig geschummelt. Der damalige Gouverneur von Helmand gab 2006 an, er habe 7.000 Hektar Mohnfelder zerstört. Westliche Beobachter gingen aber davon aus, dass es nur 1.000 Hektar waren - ein Prozent der Anbaufläche in Helmand.
Dritte Einnahmequelle ist die Unterschlagung von Hilfsgeldern. 2002 versprachen die Briten, jedem Bauern 1.750 Dollar für einen freiwillig zerstörten Hektar Opiummohn-Anbaufläche zu zahlen. Doch laut afghanischen Journalisten haben die Bauern das Geld "niemals erhalten". Trotzdem seien gut 10.000 Hektar abgerechnet worden - 17,5 Millionen Dollar wanderten also in die Taschen korrupter Beamter. Das habe "die Feindschaft gegen die britischen Truppen verstärkt".
Allein 2007 steckte die US-Regierung 100 Millionen Dollar in die Förderung alternativer Kulturen in Helmand, dazu kamen noch 20 Millionen aus London. Aber auch das änderte die Lage der Bauern kaum. Währenddessen wachsen am Rande Laschkar Gahs, der Provinzhauptstadt von Helmand, die Villen der Drogenbarone aus dem Wüstensand, nicht grundlos "Narcotektur" genannt. 2006 schrieb ein verzweifelter ausländischer Drogenbekämpfer in einem informell verschickten Memo, das Wiedererstehen des Opiumanbaus seit 2003 sei der "Tatenlosigkeit der Geber anzulasten". Schon 2003 hieß es in einem viel zu wenig beachteten Weltbankbericht, dass in Afghanistan Narcokartelle entstehen.
Einer, der dabei in der obersten Liga mitspielt, ist Senator Scher Mohammed Achundsada aus Helmand. Es ist durch alte Freundschaft und Heirat mit der Karsai-Familie verbunden. Nach dem Sturz der Taliban ernannte der Präsident ihn zum Gouverneur von Helmand. Scher Mohammed - in Afghanistan nennt man sich beim Vornamen - teilte die Schlafmohnplantagen der Provinz zwischen seinem Clan und denen seines Polizeichefs und des Armeekommandeurs auf, wie der Autor bei einem Briefing in einer örtlichen US-Einheit erfuhr.
Seinen Status als Drogenmekka hat Helmand - Ironie der Geschichte - den USA zu verdanken. Mit einem 100-Millionen-Dollar-Projekt, das 1946 begann, erschlossen sie mithilfe eines ausgedehnten Systems von Bewässerungskanälen mehrere 100.000 Hektar Ackerland für den Weizen- und Baumwollanbau. Der Krieg und Klimaänderungen führten dazu, dass viele Bauern auf Mohn umstiegen, der nicht viel Wasser braucht und fast von allein wächst. Zudem drückte Washington in den 1980er-Jahren gegenüber dem Drogenschmuggel der antisowjetischen Mudschaheddin beide Augen zu. Damals legte Scher Mohammeds Vater, der größte Kommandeur der Gegend, den Grundstein für Helmands Drogenökonomie.
Bevor die Briten 2006 Truppen nach Helmand schickten, zwangen sie Präsident Karsai, Scher Mohammed abzusetzen. Dabei half ihnen, dass eine - von Briten trainierte - afghanische Sondereinheit bei einer Razzia elf Tonnen Stoff in dessen Keller fanden. "Zur Strafe", wie ein britischer Diplomat damals den Medien sagte, machte Karsai seinen Verbündeten zum Senator. Auch dass Scher Mohammed später in einem Interview zugab, 3.000 Mann seiner Privatmiliz ermutigt zu haben, zu den Taliban zu gehen, da er sie nicht mehr bezahlen könne, schadete seiner Beziehung zu Karsai nicht. Nun droht sogar Scher Mohammeds völlige Rehabilitation. Karsai hat mehrmals öffentlich erklärt, dessen Absetzung sei einer seiner schwersten Fehler gewesen. Helmand stehen blühende Landschaften ins Haus.
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