Ärzte ohne Grenzen: Die beste Strategie ist ein gutes Projekt
Sie meiden Straßen, halten Kontakt mit Rebellen und der Armee und müssen den Verhaltenskodex des Landes verstehen. Wie Ärzte in Krisengebieten arbeiten. Ein Frontbericht.
Akzeptanz & Beziehungen: Die beste Sicherheitsstrategie ist immer ein gutes Projekt. Sein Nutzen für die Bevölkerung, ihr Vertrauen – das ist Schutzfaktor Nummer eins. Dazu braucht es lange Gespräche mit den Autoritäten und mit den Konfliktparteien (Rebellen, Armeeangehörige etc.). Zu den Repräsentanten der Bevölkerung gehören die Ältesten und kommunale Vertreter, speziell in islamischen Ländern auch wichtige religiöse Personen.
In einigen Ländern (wie Afghanistan oder Somalia) ist es wichtig zu erklären, dass die Projekte durch private Spender und nicht etwa ausländische Regierungen finanziert werden. Dies wird auch den einheimischen Mitarbeitern erklärt, sobald diese eingestellt sind. Auch den Nachbarn der Einrichtungen muss man verdeutlichen, wer diese neu eingezogenen Fremden eigentlich sind. Ein wichtiger Teil der Verhandlungen dreht sich darum, die Gesundheitseinrichtungen waffenfrei zu machen. Unbewaffnete Wachleute werden eingestellt, die die Eingänge kontrollieren. So konnten wir selbst im Süden Afghanistans nach einigen Wochen einen "humanitären Raum" schaffen, der von Polizei, Armee und anderen bewaffneten Fraktionen respektiert wurde.
Risikoanalyse: Der Schlüssel für eine gründliche Analyse der Gefahren ist das Sammeln von Informationen. Diese Informationen muss man hinterfragen, mehrmals überprüfen, zusammenführen und nach Wichtigkeit ordnen.
ÄRZTE OHNE GRENZEN (MSF: Médecins sans frontières) ist eine medizinische Nothilfeorganisation, die 1971 von einer Gruppe junger Ärzte und Journalisten in Paris gegründet wurde. Heute hat die Organisation Sektionen in 19 Ländern. Die Teams von MSF arbeiten in mehr als 60 Ländern weltweit.
Dabei arbeitet MSF neutral, unparteiisch und frei von bürokratischen Zwängen. Neben der medizinischen Nothilfe in Kriegs- und Konfliktgebieten hat es sich MSF zur Aufgabe gemacht, schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht anzuprangern. 1999 wurde Ärzte ohne Grenzen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
VOLKER LANKOW arbeitet seit 2000 für MSF und hat unter anderem Projekte in Afghanistan und Somalia geleitet. Im Moment ist er Projektleiter im Irak.
Unsere lokalen Mitarbeiter sind zusammen mit den oben beschriebenen Beziehungen und Kontakten und den Medien unsere wichtigsten Informationsquellen. Quellen werden grundsätzlich vertraulich behandelt. Andererseits ist es wichtig, die Balance von Transparenz und Diskretion zu erhalten.
Um die Gefahren, Risiken und ihre sich verändernden Muster zu erkennen, ist es hilfreich, sich ein Bild der bisherigen Sicherheitszwischenfälle zu machen und diese chronologisch und geografisch darzustellen, das nennt man "Mapping". Im nächsten Schritt wird eine Kontext-Risikoanalyse erstellt, die dazu dient, die wichtigsten Gefahren für das Team sichtbar zu machen. Eine Risikoanalyse wird in jedem Projekt erarbeitet und muss regelmäßig aktualisiert werden.
Sicherheitsregeln: Um die Risiken für die Teams zu reduzieren, werden bestimmte Abläufe verbindlich festgeschrieben. Zum Beispiel bleibt das Personal fern von bestimmten Gefahrenzonen. Zudem gibt es Ausgangssperren. Die Fortbewegung auf Straßen, die vermint sein könnten, oder auf denen regelmäßige bewaffnete Raubüberfälle stattfinden, ist unmöglich. Ein Sicherheitsregelwerk zentralisiert diese Prozeduren und Verantwortlichkeiten. In risikoreichen Kontexten sind die Regeln sehr restriktiv, zum Beispiel in Afghanistan. Dort ist praktisch keine Fortbewegung möglich, das Team bleibt außerhalb der Arbeitszeiten immer im Haus.
Des Weiteren enthält das Regelwerk auch Informationen über die verschiedenen Akteure im jeweiligen Kontext und Handlungsanleitungen für bestimmte Vorfälle. Zu den Prozeduren gehört auch ein Evakuierungsplan. Dieser schreibt fest, unter welchen Umständen und wie das Team evakuiert wird – ob mit dem Flugzeug oder im Auto, wer wofür zuständig ist, welche lokale Autoritäten über eine Evakuierung informiert werden, welche Evakuierungsrouten benutzt werden und so weiter.
In einigen Ländern hängen die Prozeduren auch stark mit der Akzeptanz zusammen, die uns entgegengebracht wird. In Afghanistan bewegt sich das Team nur zweimal täglich fort: morgens ins Krankenhaus und abends zurück in die Unterkunft. Dies reduziert das Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Schutzmaßnahmen: Obwohl die Akzeptanz in der Bevölkerung den wichtigste Schutz der Mitarbeiter darstellt, werden darüber hinaus sowohl aktive (z. B. Wachleute) als auch passive Schutzmaßnahmen getroffen (verstärkte Gebäude, Mauern, Zäune, Alarmsysteme etc.).
Wichtig ist bereits die Wahl der Örtlichkeiten für die Mitarbeiter und das Projekt. MSF-Einrichtungen sollten weit entfernt sein von offiziellen Repräsentanzen oder Regierungsgebäuden und militärischen Einrichtungen. Dazu gehören aber auch Maßnahmen zum Brandschutz, gegebenenfalls ein sicherer Raum (für den Fall, dass Konflikte in unmittelbarer Nähe ausgetragen werden), Barrikaden aus Sandsäcken, Explosionsschutzfolien für die Fenster usw. In Afghanistan wurde die Mauer, die das MSF-Haus umgab, nicht verstärkt oder mit Stacheldraht versehen, um zu zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben.
In anderen Ländern jedoch, speziell in Städten mit hoher Kriminalität, sind verstärkte Mauern mit Stacheldraht unverzichtbar, um Überfällen vorzubeugen. Aufkleber und Flaggen für die Autos, T-Shirts und Westen für die Mitarbeiter sowie MSF-Logos an Gebäuden und Büros werden in den meisten Projekten systematisch angewandt. In wenigen Ländern stellt diese Sichtbarkeit aber ein Risiko dar (z. B. im Irak) und MSF bewegt sich dort sehr diskret.
Telekommunikation: MSF hat heutzutage ein breites Spektrum telekommunikativer Technologie zur Verfügung: verschiedene Funksysteme, mobile und feste Telefonnetzwerke, Satellitenanlagen, Computernetzwerke etc. Die Wahl des passenden Systems und ein entsprechendes Ausweichsystem sind wichtig, um eine ununterbrochene Kommunikation zu gewährleisten. Jeder internationale und nationale MSF-Mitarbeiter wird für die verschiedenen Systeme trainiert, speziell für Funksysteme und Satellitentelefone. Alle Mitarbeiter müssen wissen, dass kein Kommunikationssystem Garantie für Vertraulichkeit bietet. Lokale Autoritäten und auch bewaffnete Gruppen begegnen diesen Kommunikationssystemen oft mit Misstrauen.
Transport: Bevor der Start eines Projekts entschieden wird, ist es entscheidend, den sicheren Transport der Mitarbeiter aus der Hauptstadt zum Projekt zu gewährleisten. Oft scheitert ein neues Projekt, weil es nicht per Flugzeug erreicht werden kann und für ein Auto die Entfernung zu groß ist oder die Straße nicht sicher genug ist (wegen bewaffneter Gruppen, Minen, Sprengfallen usw.). In allen Projekten ist der verantwortungsvolle Gebrauch und die regelmäßige Inspektion der Fahrzeuge eine entscheidende Komponente für die Sicherheit der Mitarbeiter. Spezielle Vorschriften für sichere Fortbewegung müssen im Sicherheitsregelwerk enthalten sein.
Zum Beispiel wird festgelegt, wer überhaupt fahren darf, dass nur MSF-Personal in den Fahrzeugen mitgenommen werden darf, welche Fahrzeuge bei Evakuierungen benutzt werden, was mit den Autos außerhalb der Arbeitszeiten passiert, welche Rolle und Verantwortung die lokalen Fahrer haben und wie sie sich beispielsweise verhalten sollen, wenn sie auf militärische oder Regierungskonvois treffen oder Checkpoints passieren müssen.
Verhalten: Mitarbeiter müssen den kulturellen Verhaltenskodex des Landes verstehen. Respekt ist entscheidend, besonders in islamischen Ländern wie Afghanistan, Somalia oder dem Irak. Wichtig sind dabei etwa die richtige Kleidung, der Kultur angemessenes Verhalten von Männern und Frauen. MSF führt für viele Projekte sogenannte "kulturelle Briefings" durch, in denen die internationalen Mitarbeiter auf bestimmte Verhaltensweisen und kulturspezifische Fragen vorbereitet werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich