piwik no script img

Adventskalender (24)Gegen die Einsamkeit

Geschätzt je­der zehnte Ber­li­ne­r ist von Einsamkeit betroffen. Reinickendorf bekommt nun die bundesweit erste Einsamkeitsbeauftragte.

Einsamkeit macht krank Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Es gibt sie noch, die nicht ganz so schlechten Dinge – auch wenn sie derzeit rar gesät sind. In diesem Advent zaubern wir jeden Tag etwas Meckerfreies aus unserem Kalender. Sei’s politisch, musikalisch, kulinarisch oder – wie heute – engagiert.

Niemand da zum Reden, niemand da, der zuhört: Einsamkeit ist in der Gesellschaft weit verbreitet – und wird für Betroffene häufig zur Psychohölle. Das hat mittlerweile auch die Bundespolitik erkannt. Kurz vor Weihnachten stellte die Ampel-Regierung jetzt stolz ihre „Strategie gegen Einsamkeit“ vor: 111 Maßnahmen, die das soziale Miteinander stärken sollen.

Spricht man Reinickendorfs Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner darauf an, redet sie sich rasch in Rage. „Halbherzig“ sei der Katalog, sagt die CDU-Politikerin zur taz. Und dass das Aufschreiben von 111 Maßnahmen noch lange keine Strategie sei. „Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung eine Stelle schafft, die sich ausschließlich mit dem Thema Einsamkeit beschäftigt“, sagt Demirbüken-Wegner.

Reinickendorf selbst ist da im deutlicher weiter. Als bundesweit erste Kommune bekommt der Bezirk im kommenden Jahr eine Einsamkeitsbeauftragte, unmittelbar angedockt an das Büro von Demirbüken-Wegner. Bis Anfang Oktober lief die Ausschreibung. Das Interesse an der Vollzeitstelle sei immens gewesen,so die Bürgermeisterin: „Und ja, wir haben jemanden gefunden“. Läuft alles nach Plan, werde die Einsamkeitsbeauftragte spätestens im Februar ihren Dienst antreten.

Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, vorhandene Projekte gegen Einsamkeit im Bezirk zu unterstützen, die unterschiedlichen Organisationen, Vereine und freien Träger an einen Tisch zu holen, deren Aktivitäten zu bündeln und zu koordinieren. Und natürlich Konzepte zu erstellen und Kampagnen zu organisieren. Mit­ar­bei­te­r:in­nen stehen der Einsamkeitsbeauftragten dabei nicht zur Verfügung. „Ich bin ja schon froh, dass ich diese Stelle einrichten konnte“, sagt Demirbüken-Wegner.

Hauptstadt der Einsamkeit

Das Thema Einsamkeit lässt die CDU-Politikerin seit etlichen Jahren nicht los. Auslöser waren mehrere erschütternde Begegnungen mit Menschen aus ihrem Wahlkreis, berichtet sie. Die tatsächliche Dimension des Problems werde in diesem Zusammenhang allzu oft ignoriert. So ist nach ihren Angaben je­de:r zehnte Ber­li­ne­r:in von Einsamkeit betroffen, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft.

Auch deshalb hatte Emine Demirbüken-Wegner schon 2019 – damals noch als Abgeordnete der CDU-Opposition im Berliner Landesparlament – mit Verve dafür geworben, in der Senatskanzlei die Stelle eines Einsamkeitsbeauftragten einzurichten und mit einem jährlichen Budget von 100.000 Euro auszustatten. Ohne Erfolg.

Ein entsprechender Antrag der Union wurde seinerzeit mit der Mehrheit aller anderen Fraktion im Abgeordnetenhaus abgeschmettert. „Einen Einsamkeitsbeauftragten, den brauchen wir nicht. Denn ein Einsamkeitsbeauftragter ist selber ein Einsamer – ein Einsamer, der Einsame sucht“, ätzte etwa die ebenfalls oppositionelle FDP gegen den vermeintlichen Beauftragtenwildwuchs in der Verwaltung. Die Linke warf der CDU und Demirbüken-Wegner „Schaufensterpolitik“ vor.

Alles Unsinn, damals wie heute, sagt Demirbüken-Wegner: „Ich habe doch nicht gesagt: Ach, mir ist langweilig, da suche ich mir jetzt irgendein Thema. Wer mich kennt, der weiß, dass ich keine Showwoman bin.“ Es sei ihr hundertprozentig ernst mit dem Kampf gegen Einsamkeit.

Weihnachtsessen mit der Bürgermeisterin

Sie wollen nicht falsch verstanden werden, sagt die Rathauschefin. Ehrenamtliches Engagement gegen Einsamkeit und die Arbeit freier Träger sei unverzichtbar. „Aber da macht man sich schon einen schlanken Fuß, wenn man auf der politischen Ebene die Verantwortung abgibt an Vereine oder freie Träger.“ Es brauche auch administrative Strukturen. Das Problem sei einfach zu groß.

Der Sprung an die Spitze des Reinickendorfer Bezirksamts nach der Wiederholungswahl im Februar gab Emine Demirbüken-Wegner die Möglichkeit, ihr Projekt einer Einsamkeitsbeauftragten zur Chefinnensache zu machen und wenigstens auf Bezirksebene umzusetzen.

Sie selbst hat für den Nachmittag des 24. Dezember – wie schon 2022 – erneut einsame Rei­ni­cken­dor­fe­r:in­nen zu einen kostenlosen gemeinsamen Essen in der Seniorenfreizeitstätte Hermsdorf eingeladen, „unterm Weihnachtsbaum und mit Geschenken, ein ganz besonderer Tag“. 40 Anmeldungen gebe es, 30 Gäste wurden im vergangenen Jahr gezählt. „Meine Zielmarke ist es, in ein paar Jahren die 100 zu erreichen“, sagt Demirbüken-Wegner.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Das Beispiel von der Bezirksbügermeisterin zeigt doch, dass Parteizugehörigkeit nicht alles ist. Gäbe es diesen Fraktionszwang de Facto nicht, würde die Demokratie heute besser da stehen. Dann ginge es um Lösungen, und nicht ums Prinzip.

  • Tja. Wäre ich keine 700km weg von Berlin würde ich dieses Angebot gerne schmarotzen. Denn sogar unter Linken bin ich ausgestoßener.

    [Als kleine Anmerkung auf Volkan Agars Weihnachtsbeitrag ;-) ]

  • Ich hoffe, dass der/die Einsamkeitsbeauftragte in Reinickendorf mehr bewirken kann als die Fahrradbeauftrage(n !) in Ulm.



    Aber immerhin scheint dort (im Gegensatz zu Ulm) die Chefin hinter das Sache zu stehen. Das hilft schon viel.

    Viel Erfolg...

    Das Thema ist wichtig und kann jeden jederzeit treffen.



    Ein Autounfall reicht.