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Abwaschbare Kopfkissen

Erika Sulzer-Kleinemeiers „Augenblicke des Zeitgeschehens“ im Kunstverein Wolfsburg dokumentieren auch ein Stück deutscher „Gastarbeiter“-Geschichte  ■   Von Jochen Becker

Die Fotografin wollte ihre Bilder an Plakatsäulen hängen sehen, neben Margarine-Werbung

Ich war in der Friedensbewegung. Das ist etwas anderes, als wenn man den Auftrag bekommt, für eine Zeitung die Friedensbewegung zu fotografieren.“ Erika Sulzer-Kleinemeier arbeitet seit den Sechzigerjahren als freie Fotojournalistin für Spiegel, Zeit, Stern und taz. Daneben verfolgt sie eigene Projekte zu sozialen Bewegungen, der antiautoritären Kindererziehung oder der Situation von „Gastarbeitern“, wobei sich diese Arbeiten zumeist aus ihrem Lebensumfeld ergeben haben. Ihre im Kunstverein Wolfsburg ausgestellten Fotografien stehen quer zu den zuletzt in der Hauptstadt prominent ausgestellten Kolleginnen Barbara Klemm oder Herlinde Koelbl. Von Erika Sulzer-Kleinemeier findet man bislang keine Bildbände im Handel.

Vier Linien ziehen sich durch den Ausstellungsraum im Wolfsburger Schloss: alphabetisch geordnete Nachkriegsporträts, chronologische Ereignisse der Bundesrepublik Deutschland, eine Posterwand zum „Gastarbeiter“-Projekt „Malochen für Deutschland“ und eine Diaschau mit Sozialreportagen. Daneben liegen fotokopierte Presseartikel mit Fotos von Sulzer-Kleinemeier bereit.

Die Schwarzweißaufnahmen zu „Malochen für Deutschland“ beginnen im Herbst 1969 als Nachbarschaftsrecherche im spekulativ aufgewühlten Frankfurter Westend. Gezielt wurden Gründerzeitvillen bettenweise an „Gastarbeiter“-Familien mit der Absicht vermietet, die Restwohnbevölkerung herauszudrängen und die durch Überbelegung heruntergewirtschaften Häuser zum Abriss frei zu bekommen.

Die Doppelstockbetten waren in zwei Schichten genutzt, das Kopfkissen mit abwaschbarem Plastikbezug versehen. Auf den wackeligen Schränken stapeln sich Koffer. Männer feiern in Kneipen oder warten auf gepackten Taschen am Bahnhof. Unter dem Dach versammelt sich eine Familie und hat seltsam feierlich Kerzen angezündet.

Die Runde ist zur Fotografin hin geöffnet, als wollte sie den Gast begrüßen. Ein Holzstuhl wird herbei getragen, auf den sie sich wohl gleich setzen wird. „Darf ich fotografieren?“, der Satz gehört zum Standard ihrer fotojournalistischen Arbeit und meint Höflichkeit, Umsicht und zugleich Selbstreflexion bei ihren Streifzügen.

Die vorerst ohne konkretes Ausstellungsprojekt gefertigten Aufnahmen wollte Sulzer-Kleinemeier ursprünglich nicht in den Frankfurter Kunstverein, sondern auf 360 Plakatsäulen „neben Margarine und Neckermann“ gehängt sehen. In der Öffentlichkeit, wo außer in der Bahnhofshalle kein Platz für „Gastarbeiter“ zu sein schien, hingen im Juni 1972 an jeder zweiten Säule insgesamt 40 Din-A0-große Motive.

An der maßgeblich von Arbeitsmigranten gebauten U-Bahn-Station Hauptwache waren Pavillons der Stadtwerke mit dem kompletten Motivsatz bepflastert, was damals für einigen Aufruhr sorgte. Unterstützung erhielt die Fotografin vom Oberbürgermeister und der IG Metall; Magazine und Zeitungen druckten später immer wieder ihre Aufnahmen nach.

Die Fotos nehmen Anteil, doch sie geben sich nicht versöhnlich. An der Wand in Wolfsburg hängen parallel die Aufnahme eines türkischen Mannes, der den U-Bahn-Tunnel an der Spitze vorantreibt, daneben das Bild eines Kollegen, den man schwer verletzt auf einer Krankenbahre wegträgt.

Damals tat sich Sulzer-Kleinemeier mit dem Autoren Ernst Klee zusammen, der 1971 das Buch „Die Nigger Europas“ zur Lage ausländischer Arbeiter in Deutschland veröffentlicht hatte. Sie organisierten Veranstaltungen zur Schulsituation für Ausländerkinder sowie zum Arbeitsrecht, um ausländische Arbeiter aus dem „Wohlfahrtsklüngel“ herauszubringen. Damals schon wurde kommunales Wahlrecht für die „Gastarbeiter“ gefordert. 1973 verbündeten sich HausbesetzerInnen und MigrantInnen erstmals zu gemeinsamen Aktionen gegen die Stadt und gingen tausendfach in den Mietstreik. Gemeinsam mit Ernst Klee war die Fotografin auch zum Publikumsgespräch nach Wolfsburg geladen, zur Eröffnung der Ausstellung, und sorgten für heftige Debatten in der Stadt des „KdF-Wagens“, die einst durch Zwangs-, Fremd- und GastarbeiterInnen errichtet wurde. Denn deren Ghettoisierung und arbeitsrechtliche Diskriminierung wirken bis heute nach.

Auf dem Weg vom neuen ICE-Bahnhof – entlang der Baustelle des VW-Expo-Showcase „Autostadt“ – zum Schloss prangt das Graffiti eines zum Hakenkreuz ausgeweiteten VW-Logos mit der Überschrift „Sofortige Entschädigung aller ehemaligen VW-Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter!“. Beim Bahnhof treffen sich in der neu eröffneten Cappuccino-Bar junge Wolfsburger italienischer Herkunft und parken ihre Fahrzeuge kreuz und quer auf dem Vorplatz, während sich die Elterngeneration im unauffälligeren „Italienischen Club“ oder einem Gemüseladen eingerichtet hat.

Schon zur Kaiserzeit arbeiteten Arbeitsmigranten in den Kaligruben oder beim Gleisbau der Region. Mehr als 5.000 Italiener waren seit 1938 als „Arbeitskameraden“ den deutschen Rüstungsarbeitern nahezu gleichgestellt und bauten Wohnungen, Werke, Waffen. Mit dem Sturz Mussolinis 1943 wurden die italienischen Arbeiter auf eine Stufe mit den osteuropäischen Sklavenarbeitern gestellt und ebenso verächtlich behandelt.

Nach dem Bau der Mauer setzte man im Zonenrandgebiet erneut auf angeworbene, ausschließlich männliche Migranten aus dem Mezzogiorno Italiens. Nach einer „Tauglichkeitsprüfung“ wurden sie im umzäunten „Italiener-Dorf“ so elend untergebracht, dass die Polizei gegen die Lagersiedlung anrückte, um einen möglichen Aufstand sowie Arbeitsniederlegungen abzuwehren.

Heute spricht die Stadtbevölkerung von „unseren Italienern“, die rund die Hälfte der nicht deutschen Bevölkerung Wolfburgs stellen. Ihre Rechte sowie eine Geschichtsschreibung der Zwangs-, Fremd- und Gastarbeit mussten allerdings erkämpft werden, so ein IG-Metaller bei der Podiumsdiskussion. So erhielt der Leiter des benachbarten Stadtmuseums noch Mitte der Achtzigerjahre Drohanrufe, als er die nationalsozialistische Basis Wolfburgs öffentlich machte.

Ergänzend berichtete Ernst Klee vom Holzmann-AG-Lager für Gastarbeiter in Frankfurt-Rödelheim. Damals wurde ein Flugblatt polemisch mit „KZ für Gastarbeiter“ überschrieben. Ernst Klee ahnte damals nicht, wie richtig er mit dieser Bezeichnung lag. Denn auch hier waren während der Zeit des Nationalsozialismus Sklavenarbeiter kaserniert.

Bis 7. 11. läuft die Ausstellung im Kunstverein Wolfsburg; eine fotokopierte Broschüre liegt an der Kasse aus. Neu aufgelegt wurde Klaus-Jörg Siegfrieds Studie „Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im VW-Werk“ (Campus-Verlag), die bei der Erstveröffentlichung 1986 heftig umstritten war.

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