: Abstürzende Lebenszukunft
Abschied ist immer, ob von Buchkultur, Kino, Geschichte und so weiter. Das Reden vom Ende nimmt kein Ende – Karl Heinz Bohrer versucht sich an einer Theorie der Trauer ■ Von Guido Graf
Jeder Abschied formuliert die Illusion, daß es diesmal endgültig sei. Spätestens bei der nächsten Ankündigung eines Endes, eines letzten Mals, des Todes von irgend was beginnt einem allmählich zu dämmern, daß es immer noch um etwas anderes geht. In unserer alltäglichen Rhetorik hat sich die Gegenwärtigkeit des Endes (von was auch immer) zu etwas Selbstverständlichem verschliffen. Wir reden davon, daß etwas nicht mehr so ist, wie es mal war, daß die Geschichte, die Kunst, der Roman, das Kino, die Familie, die Gesellschaft am Ende sind.
Und vor allem das Gerede darüber hört nicht auf. Der Beschwörungscharakter solchen Redens weist darauf hin, daß wir uns in einem Traditionsraum bewegen, der ganz und gar unvermeidlich ist, der die Moderne geprägt hat und alles, was unser kulturelles Selbstverständnis ausmacht.
Dessen Spur versucht Karl Heinz Bohrer in seinem neuen Buch „Der Abschied“ mit einer „Theorie der Trauer“ nachzuzeichnen. Denn es geht weniger darum, wovon Abschied genommen wird, als um das Verabschieden selbst, um das Sprechen darüber. Abschied ist für Bohrer ein Bewußtseinszustand, eine „Reflexionsfigur“, mit der wir erklären oder darstellen, was sich in unsere bestehende, konventionalisierte Ordnung nicht mehr widerstandslos einfügen läßt.
Das Thema hat Konjunktur. Teils vollkommen unberührt voneinander durchforsten verschiedene Gelehrte das gleiche Feld, lesen dieselben Texte – und wie Bohrer geht auch Reinhart Baumgarts Buch „Addio“ dabei von Goethes „Tasso“ aus. Abschiedsrhetorik faßt Reflexionen über Vergänglichkeit in Worte, die vor allem der Selbstbeschreibung dienen. Musik- und kunsttheoretische, historische, soziologische, philosophische und literaturwissenschaftliche Studien, die zudem die gängigen methodischen Spielarten repräsentieren, fixieren eine Vielzahl von Enden, die vor allem den Schluß nahelegen, daß es das Ende nie geben kann. Nahezu allen Beiträgen ist die Sehnsucht gemeinsam, endlich das Ende der Rede vom Ende zu errreichen.
Allein Odo Marquard setzt sich mit Leichtigkeit darüber hinweg, indem er den Abschiedsgesang durch Bestechlichkeit unseres Blicks auf die Wirklichkeit erklärt: „Meine Schwindligkeit – ich war extrem schwindlig: Schon wenn ich auf einem Maulwurfshügel stand, hatte ich Angst hinunterzufallen – nimmt mit zunehmendem Alter ab, vielleicht deswegen: weil immer weniger Lebenszukunft abstürzen würde.“
Mit Nietzsche diagnostiziert Bohrer, daß sich die Abschiedsrhetorik mit Beginn des 19. Jahrhunderts als ästhetische Form verselbständigt. Erst über dieses Tableau hat auch der heutige soziale und politische Diskurs ein Vokabular bezogen. Für die Konjunktur derjenigen, die ihre politisch motivierten Ressentiments für Abgesänge beispielsweise auf die Kunst einsetzen, um nach Möglichkeit irgendeine, vermeintlich ursprünglichere Stufe vor der aktuell kritisierten zu restaurieren, ist dieses Faktum gerade von Bedeutung.
Das Ende wird nicht erlebt, man malt es sich aus. Es wird zu Stil sublimiert. Gegenwart erhält nur durch ihre Vergänglichkeit, durch Vergangenheit Bedeutung. Dem kann man Bemühungen um Authentizität entgegenhalten. Doch wo es beiderseits nur darum geht, bestehenden Ordnungen durch Abdichtung oder Reinigung unendliche Dauer zu verleihen, gibt es keine (pragmatischen) Perspektiven. Eine solche wäre, Abschiedsrhetorik als Diskurs über Macht- und Identitätsfragen zu verstehen. Wer das entschwundene Glück beklagt, die Entsolidarisierung der Gesellschaft ebenso wie das Fehlen von Tugenden wie Fleiß und Ehrgeiz, daß man sich nachts nicht mehr auf die Straße wagen darf, Kinder nicht mehr naturgemäß aufwachsen, Malerei beliebig und die Buchkultur in Auflösung begriffen sei – wer sich hier und bei unendlich vielen anderen Themen kompetent für Apokalypsen zeigt, setzt voraus, es gebe ein alternatives Bewußtsein, bessere Zustände, Lösungen und Entscheidungen, die unhintergehbar wären und nur gefüllt werden müßten. Er zeigt seinen Anspruch auf die Macht, diese Entscheidungen zu treffen. Identität wird so auf das Innehaben von Macht reduziert.
Immer, so zeigt Bohrer bei Baudelaire, Goethe, Nietzsche und Benjamin, wird die Rede vom Ende zum Selbstzweck. Das Ende, das beklagt wird, ist zugleich auch Voraussetzung dieser Klage. Nicht anders als mit dieser zirkulären Selbstbeschreibung läßt sich auch ästhetische Autonomie bestimmen. Der angekündigte Abschied muß gar nicht vollzogen werden. Alles weitere ist eigentlich so banal wie die Alltagsweisheit, daß jedes Ende auch einen Anfang nach sich zieht, daß die Schlange sich in den Schwanz beißt und so fort. Für Nietzsche jedenfalls ist klar, daß die Nähe zum Tod ein Merkmal von Kunst ist, wie es eben nicht emphatisch, sondern selbstverständlicher gar nicht sein könnte. Dem Vergänglichen wird Dauer verliehen, nur weil es vergänglich ist, und deshalb wird es nicht vergehen.
Daß irgend etwas Schönes zu Ende geht, ist eine gewöhnliche Erfahrung seit Ovid. Der Abschiedsklage, die Bohrer vernimmt, fehlt jedoch der Glaube an einen Ausgleich des beklagten Verlustes, an ein Gegengewicht der Vollkommenheit im „Licht der Desillusion“. Was also, wenn dieses Gegengewicht fehlt, statt dessen Nietzsches „Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod“ beherrschend im Raum steht? Wenn die Stimmung des Abschiednehmens, wie Bohrer sagt, im Zentrum unseres kulturellen Bewußtseins steht, wird die Frage nach Identität zum Entziffern einer Nebelwand?
Es geht nur mehr um Bewußtseinszustände, nicht um Ideen und Sinnzusammenhänge, in die der Abschiedsgesang integriert wäre. Das Ende der Geschichte oder des Sozialstaats findet entsprechend nicht tatsächlich statt. In einem rhetorischen Akt werden Chiffren ausgetauscht, die gerade nicht aufgelöst werden dürfen. Machtfragen können nur verdeckt durchgespielt werden.
Man kann Nietzsches „Verlangen zum Nichts“ ebenso wie Bohrers „Theorie der Trauer“ auch in ihrer Produktivität sehen. So gewendet können wir, von allen letzten Dingen unbefangen, unsere Selbst- und Neubeschreibungen ohne absolute Ansprüche zur Diskussion stellen. Die Frage, wie offensichtlichen Schwierigkeiten in der Finanzstruktur unseres sozialen Systems begegnet werden kann, führt vermutlich weiter, wenn sie in ihrem jeweiligen Kontext gestellt wird, als einen globalen Austausch der Systeme vornehmen zu wollen. Das Ende von etwas ist nicht notwendig mit einer Katastrophe gleichbedeutend. Katastrophen, sagt Walter Benjamin, stehen nicht bevor, sie finden statt.
Der Beigeschmack des Schreckens soll aber allzuhäufig helfen, der Abschiedsrhetorik die Machtmittel in die Hände zu geben, indem die notwendigen Differenzierungen (beim Kindergeld, bei der Sozialhilfe, bei kommunalen Subventionen etc.) zugunsten vermeintlich eindeutigerer Pauschalisierungen glattgebügelt werden. Der Faltenwurf komplexer Lösungsansätze verdeckt, so die Verabschiedungssprache, die freie Sicht auf klare Entscheidungen. Dieses Spiel wird natürlich dadurch gefährlich, daß die Rede vom Ende immer nur etwas Bevorstehendes in den Blick nimmt, das nicht eintreten darf, da sich ja sonst die Basis für den Machtanspruch verflüchtigt hätte.
Jacques Derrida hat auf die Unausweichlichkeit der apokalyptischen Redeweise hingewiesen. Jedes proklamierte Ende wird von einem anderen, einem weiteren Ende übertroffen. Und darum geht es schließlich nur: Überbietung. Dazu lassen sich wohl eher alternative Diskurse denken als gegenüber endgültigen Verabschiedungen, die so häufig sind, gerade weil sie eigentlich so schwer erträglich sind. Entsprechend einer Einsicht in die Kontingenz jeglichen Endes wäre also für einen pragmatischen Umgang damit zu plädieren, der nur Vorläufigkeiten kennt, etwa so wie Arnold Schönberg in seiner „Harmonielehre“ Musik als Folge teilweise und vorläufiger Schlüsse beschreibt, so wie Johann Gottfried Seume aufhört, sein Leben zu erzählen: „Und nun.“
Karl Heinz Bohrer: „Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin“. Suhrkamp, Frankfurt 1996, 626 Seiten, 56 DM
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