Die Gewinnerfilme in Cannes: Der Lohn des Muts

Der US-Regisseur Sean Baker gewinnt mit „Anora“ in Cannes die Goldene Palme. Für den iranischen Filmemacher Mohammad Rasoulof gibt es den Spezialpreis.

Regisseur Sean Baker am 25. Mai 2024

Sean Baker mit seinem Preis, 25.Mai 2024 Foto: Sarah Meyssonnier, Reuters

Dieses Filmfestival war in Teilen ein Festival der enttäuschten Erwartungen. So hatte es im Vorfeld Hinweise gegeben, dass das Thema #MeToo die 77. Ausgabe der internationalen Filmfestspiele von Cannes auch mit Protesten beherrschen könnte. Am Ende blieb es weitgehend ruhig, von einigen Plakaten in der Stadt oder Aufklebern in Kinosälen mit dem Schriftzug „Patriarcannes“ einmal abgesehen. Das Programm musste nicht umgestoßen, kein Filmemacher wegen öffentlicher Anschuldigungen aus dem Wettbewerb ausgeschlossen werden.

In diesem Jahrgang war andererseits auch die Auswahl von besonders schwankender Qualität. Darunter vieles nur halb Überzeugendes oder halb Geglücktes, wenige Ausbrüche nach oben.

Dass der am stärksten polarisierende Film im Wettbewerb, Coralie Fargeats Horrorkomödie „The Substance“, von der Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig am Sonnabend den Preis für das beste Drehbuch erhielt, war bei der übersichtlichen Anzahl an Ideen des Plots einerseits eine verwunderliche Wahl, andererseits war ein Preis für den mit Abstand kunstblutigsten Film des gesamten Festivals zu erwarten gewesen.

Der Hauptpreis, die Goldene Palme, ging hingegen an den US-amerikanischen Regisseur Sean Beaker für seine auf ihre Art ebenfalls drastische Komödie „Anora“, passend zur Begeisterung, mit der dieser Film aufgenommen wurde. Baker erzählt darin von einer Sexarbeiterin, die an einen jungen Oligarchenspross als Kunden gerät, sich in ihn verliebt und während einer Reise in Las Vegas spontan heiratet.

Das Ungemach, das für das junge Paar folgt, sobald die Eltern vom neuen Familienstand ihres Sohns erfahren, nutzt Baker für Situationskomik mit sicherem Sinn für Timing. Denn nach dem Willen der Eltern soll es diese Ehe nicht geben, und da sie selbst in Russland leben, schicken sie Handlager, damit diese sich der Sache annehmen.

Eine Person tanzt im blauen Licht.

Eine Szene aus „Anora“ von Sean Baker Foto: Neon/ap

Nebenbei deutet der Film Themen wie #MeToo auf der Bildebene an, ohne dass er sich inhaltlich mit sexualisierter Gewalt befassen würde. Anora, gespielt von der energischen Mikey Madison, muss zumindest erfahren, wie es ist, wenn man sich einer Überzahl von Männern gegenübersieht, die ihre Freiheit bedrohen. Doch selbst in dieser Lage weiß sie sich verbal wie körperlich nach Kräften zu verteidigen. Man kann die Trophäe für Bakers struppiges Ungestüm allemal rechtfertigen.

Payal Kapadias „All We Imagine as Light“

Ein nicht weniger würdiger Kandidat wäre „All We Imagine as Light“ gewesen, der zweite Spielfilm der indischen Regisseurin Payal Kapadia. Diese erhielt für ihre in ruhigen Bilder inszenierte Geschichte, in der sie die Schicksale dreier Frauen in Mumbai verbindet, die zweitwichtigste Auszeichnung, den Großen Preis der Jury.

Als Ehrung immer noch angemessen, Kapadias Arbeit, in der sie mehr zeigt als erzählt, ist stilsicher und verbindet elegant dokumentarische Bilder mit den gespielten Szenen. Und die Mittel, mit denen sie einzelne Fäden der Handlung zusammenführt, haben mitunter etwas unbekümmert Verspieltes.

So weit, so gut. Dem steht dafür eine Reihe von Filmemachern entgegen, die eine höhere oder überhaupt eine Auszeichnung verdient hätten. Die Langzeitbeobachtung der Transformation Chinas, die Jia Zhangke in „Caught by the Tides“ bietet, ist ebenso beachtlich wie Andrea Arnolds eigensinnige Verschaltung von Sozialbautristesse und magischem Realismus in „Bird“. Beide gingen leer aus.

Nur Spezialpreis für Mohammad Rasoulof

Am enttäuschendsten ist allerdings der Spezialpreis, den die Jury dem iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof für dessen „The Seed of the Sacred Fig“ zuerkannt hat. Rasoulof war zuvor von iranischen Behörden unter Druck gesetzt worden, seinen Beitrag aus dem Wettbewerb zurückzuziehen, und nach seiner Verurteilung zu einer achtjährigen Haftstrafe aus dem Land geflohen. Am Freitag erschien er in Cannes auf dem roten Teppich, erhielt bei der Premiere vorab minutenlange Standing Ovations und nach dem Film noch einmal rund eine Viertelstunde davon. Er schien, wie der Rest seines anwesenden Teams, mit den Tränen zu kämpfen.

Mit „The Seed of the Sacred Fig“ greift Rasoulof das iranische Regime in aller Direktheit an. Dieses wird repräsentiert von einem Familienvater, der am Revolutionsgericht frisch zum Ermittlungsrichter befördert wurde, genau in dem Moment, als im Land die Proteste gegen den Tod Jina Mahsa Aminis in Polizeigewahrsam losbrechen. Seine Töchter hingegen beurteilen die Berichterstattung in den Medien dazu höchst distanziert, sie erleben fassungslos, wie eine Freundin am Rand einer Demonstration gefährlich verletzt wird.

Die Positionen sind in dieser Konstellation klar verteilt, was dem Drama, das Rasoulof daraus entstehen lässt, nichts von seiner Wucht nimmt. Für Ambivalenz sorgen insbesondere die Eltern, die sich selbst unter Beobachtung des Regimes sehen.

Rasoulof führt diese politisch toxische Mischung in eine ausweglose Situation, die als Anklage gegen das „System“ im Iran an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Vor dieser entschlossenen Wut hat die Jury womöglich Angst bekommen, anders ist schwer zu erklären, warum Rasoulof mit dem Spezialpreis vertröstet wurde. Für das Festival ein eher peinliches Ergebnis.

Seltsam unentschlossene Würdigung

Vor dem Hintergrund verblasst etwas der Jurypreis für Jacques Audiards Transgender-Musical „Emilia Pérez“, das im mexikanischen Narcosmilieu spielt. Und dass sich dessen Hauptdarstellerinnen Karla Sofía Gascón und Zoe Saldana diesen Preis mit den weiteren Darstellerinnen des Films Selena Gomez und Adriana Paz teilen müssen, ist wieder so eine seltsam unentschlossene Würdigung, die leicht beleidigend wirkt.

Dann lieber noch ein Blick auf ein paar Höhepunkte aus dem Programm der Nebenreihen. Mit „Black Dog“ hat der chinesische Regisseur Guan Hu, neben Jia Zhangke, eine weitere Transformationsgeschichte aus dem Land präsentiert. Mit sperrigen Protagonisten, einer rührend kitschfreien Mensch-Hund-Beziehung und wunderbaren Aufnahmen von schief in die Landschaft gewachsenen Bauten, die stadtplanerischen Projekten weichen müssen. Dafür gab es verdient den Preis der Sektion „Un Certain Regard“.

Aus derselben Reihe gab es die Camera d’or für den besten Erstlingsfilm für „Armand“ von Halfdan Ullmann Tøndel. Der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman erzählt in seinem Spielfilmdebüt von einer Singlemutter, die an die Schule ihres Sohns zitiert wird, weil es einen „Vorfall“ gab mit einem anderen Schüler. Renate Reinsve spielt diese Mutter mit einer Vielzahl an Nuancen, und sie schafft es in einer Szene, minutenlang so in einen Lachanfall auszubrechen, dass sie mit ihrer Darbietung den Höhepunkt des Films schafft.

Animationsfilme des Jahrgangs

Erfreulich zudem die Zeichentrickbeiträge dieses Jahrgangs, etwa der lettische Animationsfilm „Flow“ von Gints Zilbalodis, in dem eine Katze auf große Entdeckungsfahrt geht und dabei in ständiger Bewegung bleibt. Eine Flut zwingt sie in ein verlassenes Segelboot, nach und nach schließen sich weitere Tiere wie ein Hund oder ein Biber an. Eine charmant unperfekte Animation trägt zum Gelingen dieses Abenteuers ganz ohne menschliche Figuren maßgeblich bei.

Noch schöner der japanische Film „Ghost Cat Anzu“ von Yôko Kuno und Nobuhiro Yamashita aus der unabhängigen Reihe Quinzaine des cinéastes, in dem eine mannsgroße Katze am liebsten mit dem Moped durch die Gegend fährt und bei Gelegenheit Quatsch macht. Für ein auf sich gestelltes Mädchen bietet sich Anzu nichtsdestotrotz als Freund an. Ein vor anarchischen Einfällen nur so strotzendes Wunderwerk des unorthodoxen Kinderfilms.

Zuletzt sei eine kleine Komödie erwähnt, die sich ausschließlich einem einzigen Baseballspiel widmet. „Eephus“ von Carson Lund ist ein Sportfilm, der wenig Interesse an Menschen zeigt, die sich zu Höchstleistungen zwingen, er beobachtet vielmehr eine Gemeinschaft von – fast – nur Männern, die in einem Vorort an der Ostküste der USA zum letzten Mal ihrer Leidenschaft für Baseball frönen. Das Feld, auf dem sie sich jahrzehntelang getroffen haben, muss einem Gebäude weichen.

Lund führt eine Reihe schräger Charaktere zusammen, die so hart wie weich sind, und nicht pausenlos, aber sehr ausgiebig über den Sport ihrer Herzen sprechen. Für Kundige wie Unkundige hat das großen Reiz. Inklusion der ungewöhnlicheren Art.

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