: Abschied von der SPD
Schröder ist seit 100 Tagen aus dem Kanzleramt, doch wo ist die Neue Mitte geblieben? Zum Beispiel in Isernhagen bei Hannover – der kaufkraftstärksten Kommune in Niedersachsen, in der sich die neuen Selbständigen tummeln. Eine Spurensuche von Tilman Weber (Text und Foto)
Im Garten des Tagungszentrums Seefugium am Nordrand von Hannover steht ein Harfenbogen aus Metall. In den Bogen sind kleine Löcher gebohrt, aus denen feine Wasserfäden fließen – die Saiten der Harfe. Zu Gesicht bekommen diese Skulptur die gelegentlich hier tagenden Manager hannoveranischer Konzerne wie TUI, Conti oder AWD. Oben fließt das Wasser raus, unten wieder rein, ohne Plätschern – so reibungslos, wie sich der Inhaber der Liegenschaft, der Milliardär und AWD-Chef Carsten Maschmeyer, heute bewegt. Maschmeyer war lange die Verkörperung jener Neuen Mitte, für die Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder dezidiert Politik machen wollte.
Als Schröder damals von Hannover aus mit seinem Versprechen einer neuen Politik für die Akteure der Dienstleistungsgesellschaft gestartet war, hatte Maschmeyer eine Aufsehen erregend teure Anzeige geschaltet: „Ein Niedersachse muss Kanzler werden.“ Wie Schröder stammt er aus einfachen Verhältnissen, arbeitete sich hoch. Sein Aufstieg scheint nun nach dem Ende der Kanzlerschaft Schröders zu stocken: Die Finanzdienstleistungsfirma AWD hat Probleme. Umsatz und Gewinn gingen 2005 deutlich zurück, viele Aktionäre reagierten mit Rückzug. Für eine Stellungnahme zum Verbleib Schröder‘scher Visionen ist Maschmeyer nicht zu erreichen.
Schröder weg, Neue Mitte weg? War Schröder nur genialer Werber, oder hatte er reale Lebensläufe und Plätze vor Augen, als er den Begriff des Kanzlerwahlkampfes 1998 prägte? „Neue Mitte, ich weiß nicht, wo die ist“, sagt die Dame im Empfang des mit Terracotta ausgelegten Tagungsbaus demonstrativ unwissend. Im Sommer vor zwei Jahren hatte Schröders Koalition genau hier Klausur gemacht. Heraus kamen eine Gewerbesteuerreform und das Arbeitslosengeld II.
Keine 500 Meter nördlich von der Tagungsstätte Seefugium liegt Isernhagen, eine Gemeinde, die sich aus mehreren Straßendörfern zusammensetzt. Isernhagen sieht aus wie ein aus der Großstadt geworfenes Gründerzentrum. Dabei muss es in seine Einzelteile zersplittert sein. Vor jedem dritten der mit neuen Klinkersteinen aufgefrischten Niedersachsenhäuser verweist ein Schild auf neue Selbständigkeit.
Die stattlichen 400 Jahre alten Bauernhäuser beherbergen Werbeagenturen, Steuerberater, Anwälte, Mediendienstleister, Möbelläden, Weinhandel, Friseure, Restaurants, Ärzte, Heilpraktiker, Galerien. Unternehmen mit Erfolg: Isernhagen ist kaufkräftigste Kommune Niedersachsens und die steuerstärkste der Region Hannover. Und die Mehrheit ihrer Bürger hatte sich lange zur Schröder-Mitte gezählt. Bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 hatte die SPD die meisten Wähler des Ortes hinter sich, auch Rot-Grün bekam Mehrheiten.
„Hier war bis 1998 Schröders Landtagswahlkreis“, sagt Tom Rutert-Klein. „Unsere Bürger haben ihn gewählt, weil sie ihn kannten.“ Aber Neue Mitte? Nein. „Der Trend“, sagt Rutert-Klein, „geht zu Drittwagen und Zweitpferd.“
Der 49-jährige SPD-Ortsvorsitzende sitzt mittig auf einem langen blauen Sofa im eigenen Wohnzimmer und sieht aus, als würde er sich sogar hier als Fremder fühlen. Den langen Oberkörper hat er durchgestreckt, die Beine angewinkelt, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt. Es ist die Haltung einer Sitzgiraffe auf Regalkante oder Fenstersims. Nur seine Unterarme bewegen sich frei, klappen seitwärts auseinander: „Die Neue Mitte war als Begriff sooo breit geformt. Anfangs war sie noch auf die Leistungsträger gemünzt, aber dann konnte sich jeder dazurechnen. Bei genauer Betrachtung musste sie zerfallen.“
Rutert-Klein muss es wissen. Von 1991 bis 1993 war er Büroleiter des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder – nach fünfeinhalb Jahren als Referent Oskar Lafontaines in Saarbrücken. Nach Schröders Niederlage 1993 gegen Rudolf Scharping bei der Wahl zum SPD-Vorsitzenden fiel Rutert-Klein in Ungnade und wechselte in die Staatskanzlei. Er versuchte den Absprung, zog 1995 nach Isernhagen, kämpfte 2001 vergeblich um den Bürgermeisterposten gegen den christdemokratischen Amtsinhaber. Jetzt ist er Abteilungsleiter im Sozialministerium. Manchmal beobachtet er, wie Schröder die Tochter seiner Frau Doris im Reitclub gegenüber vom Training abholt.
Tatsächlich ist Isernhagen eher konservativ. 2005 war sie einzige von 21 Gemeinden der Region Hannover, in der die SPD hinter der CDU blieb. Warum die Neue Mitte keinen festen Ort gefunden hat, zeigt sich gerade in den drei konservativsten Ortsteilen Isernhagens. Entlang einer schnurgeraden, sechs Kilometer langen Straße geht die Niederhägener in die Farster und die Farster in die Kircher Bauernschaft über. Es reihen sich fast genau 350 Häuser, was ironischerweise der Zahl jener Wochen entspricht, in denen Bundeskanzler Schröder die Bundestagsmehrheit hatte. Seit fünf Jahren ziehen verstärkt die Erfolgreichen aus Hannover hierher, kaufen sich Häuser. Zehn bis 20 alte Bauernhäuser für je rund 500.000 Euro wechseln nach Schätzung des Bürgermeisters jährlich den Besitzer.
Das Haus am Ortfelde 113 hatte 1994 der heute 53 Jahre alte Finanzdienstleister Volker Schwäbe gekauft. Damals verharrte die Börse kurz vor ihrem Marsch nach oben – nach einem kurzen Anstieg im Halbjahr zuvor. Innen im Haus führt eine bereits abgenutzte Buchentreppe mit modernem Spanndrahtgeländer hoch zu Schwäbes Büro. Die Dame am Empfang ruft oben an, fragt, ob Schwäbe Besuch empfangen will. Sein leises „Ja“ ist auch ohne Telefon zu hören. Oben sitzt ein blonder norddeutscher Typ vor einem für den Folgetag aufgeschlagenen Terminkalender. „Die Mitte hat ja immer die FDP beansprucht, der ich nahe stehe“, sagt er. Bis zur Landtagswahl im März 1998 aber wählte er den damaligen Ministerpräsidenten Niedersachsens, Schröder. Doch mit den Grünen im Bund war er ihm zu suspekt.
Ein paar Niedersachsenhäuser weiter hebt eine junge Frau einen Fuß, zeigt auf ihren Schuh. „Ich bin schwarz wie dieser.“ Sie betreibt mit ihrem Partner seit einem Jahr die Werbeagentur VF 2, direkt unter einem tief gezogenen Bauernhofdach und über den Räumen eines Bestattungsinstituts. Ihren Namen möchte sie nicht veröffentlicht haben. „Eigentlich wären wir die Neue Mitte, aber der Slogan hat bei mir nie verfangen.“ Sind Erfolg und soziales Denken also unvereinbar? „Man muss halt arbeiten, dann klappt das mit dem Sozialen schon.“
Warum aber hatte das Identifikationsangebot für die Erfolgreichen und Innovativen ausgerechnet in einem Eldorado für solides Gründen wie Isernhagen keine Kraft? „Die Neue Mitte war höchstens ein Traum“, sagt Christiane Krüger. Die unter 40-jährige Frau steht mit Kleinkind auf dem Arm auf einem Vorgarten-Holzsteg vor einem Wohnkasten im Bauhausstil. Der Bürgermeister hatte bei Krügers Bauantrag noch persönlich gedroht, diese undörfliche Architektur zu verhindern. Krüger ist Krankengymnastin, selbständig wie ihr Mann. Wegen der Kinder musste sie die Praxis eine Zeitlang schließen. „Den Menschen der Neuen Mitte gibt es nicht, weil Beruf und Familie nie vereinbar waren“, sagt sie.
Im alten Schulhaus der Hohenhorster Bauernschaft, das jetzt „Adiuro. Rechtsanwälte“ heißt und nördlich der anderen drei Bauernschaften steht, gibt es die Neue Mitte noch. Sie ist 38 Jahre alt, männlich, Vater zweier Kinder und heißt Sebastian Berndt. Vor drei Jahren hat er seine Firma eröffnet, fünf Partner gehören dazu. Schon 2002 kaufte und renovierte er in der Nähe für 270.000 Euro ein Nachkriegs-Haus, abzustottern in Raten. In drei Minuten kann er von seiner Arbeitsstätte dorthin zu Fuß, um seine Frau und zwei Kinder zu treffen.
Die Kanzlei erhält dank der Klientel ringsum genug Aufträge. Zuständig ist sie für Allgemeines Zivil- bis Wettbewerbs- und – gut in Isernhagen – „Pferderecht“. In Berndts Büro hängen moderne farbenprächtige Gemälde, ein irgendwie hypnotisierender Spiralnebel, eine Sonnenuhr, sandfarben, jedes mit einem nicht näher definierten Zentrum als Blickfang. „Neue Mitte ist die Vernetzung von Bildungsniveau mit Sozialer Frage“, stochert Berndt verbal nach dem zentralen Punkt der Neuen Mitte.
Berndt ist ein Engagierter, mischt in den Vorständen von SPD-Ortsverein und AWO mit, wurde Vorsitzender des TSV Isernhagen. Seine Fingerspitzen stellt er vor sich auf die Schreibtischplatte, als wolle er etwas anfassen. Sein Blick hat etwas Leidendes. Er versuchte bisher vergeblich, einen Stammtisch progressiver Jungunternehmer zu eröffnen. „Die Neue Mitte überlebt nicht, wenn sie nicht selbst Politik macht.“
Der Bundesvorstand seiner Partei hat die Neue Mitte offenbar selbst nie kennen gelernt. „Wen meinen Sie damit?“, hieß es am Aschermittwoch auf Anfrage der taz aus der Vorstandspressestelle. Der neue SPD-Chef Platzeck hofft derzeit auf etwas anderes, wie er im Januar in einem Beitrag für die Welt am Sonntag erklärte: eine „Linke Mitte“. Die, so Platzeck, lasse sich nicht ein „auf die fahrlässigen Verheißungen der marktradikalen Ideologie“.
Die SPD nimmt Abschied von Isernhagen.