Abschied von "Emergency Room": Am Puls der Zeit
Nach 16 Jahren stirbt "Emergency Room" am Mittwoch auch im deutschen Fernsehen. Neben Zwischenmenschlichem setzte die US-Arztserie einen starken Fokus auf aktuelle politische Themen.
Was hat man nicht alles gelernt in den 16 Jahren?! Dass ÄrztInnen erst mal ein "großes Blutbild" zu nehmen haben, wenn jemand auf der Trage eingeliefert wird. Dass Asystolie Herzstillstand bedeutet. Dass man über nackte Fußsohlen streichen muss, um den "Babinski-Reflex" zu testen - weiß der Teufel wieso.
"Emergency Room" ist nicht die Mutter, sondern die Kaiserin der Krankenhausserien, ausgedacht vom US-Drehbuch- und Romanautor, Produzenten, spinnertem Visionär und Wissenschaftler Michael Crichton, der 2008 an Krebs starb und der als gebürtiger Chicagoer seine bereits 1974 geschriebene Serienidee in einer fiktionalisierten Version des Chicagoer Krankenhauses ansiedelte, in dem er selbst als Medizinstudent Babinski-Reflexe testete. Das Charakteristische, das der Produktion 123 Nominierungen für den wichtigsten US-Fernsehpreis, den Emmy, und 22-mal seinen Gewinn bescherte, war den Geldgebern in den Siebzigern noch zu ungewöhnlich: viel zu viel medizinisches Gequatsche und damit viel zu unverständlich. Außerdem würde der große Cast für zusätzliche Verwirrung sorgen.
Eine Minute von "Emergency Room", vor allem wenn sie im "Traumaraum" spielt, in dem Schwerverletzte nach der Einlieferung reanimiert werden können, besteht aus zwei gegenüberliegenden Drehbuchseiten. Auf der einen stehen die Dialoge der vielen DarstellerInnen, das ganze "Asystolie!"-, "Laden auf 300, weg!"-, "Er ist tachykard!"-Gebrülle, all die medizinischen Fachtermini. Auf der anderen Seite steht genau, was passiert: Ärztin C. schlüpft in die sterilen Gummihandschuhe, Schwester H. spritzt etwas in den Tropf, Chirurg B. untersucht die Schusswunde. In manchen Outtakes sieht man die SchauspielerInnen an diesen ärztlich-professionellen Handlungen versagen, sieht, wie das Handschuhanziehen bei Dr. Carter Minuten dauert und die Szene unter allgemeinem Gelächter abgebrochen wird.
Dieser Artikel wurde der aktuellen sonntaz vom 15./16.8.09 entnommen - ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Crichton ließ nach der Ablehnung seiner Idee Jahre verstreichen, schrieb das Drehbuch zu "Jurassic Park" und begann, mit Steven Spielberg zu arbeiten. Der überredete Warner Brothers 1990 dazu, die Rechte am ER-Drehbuch seines Freundes Crichton zu kaufen und einen Piloten damit zu produzieren.
Vor der Erstausstrahlung von "Emergency Room" am 19. September 1994 war das amerikanische Publikum bereits durch 26 andere Arztserien gestählt worden: Der gut aussehende Schwiegermuttertraum "Dr. Kildare" (Richard Chamberlain) hatte zur Primetime praktiziert, gegen "Dr. Marcus Welby" (Robert Young) hatten homosexuelle AktivistInnen wegen einer Vermischung von Homosexualität und Pädophilie erfolgreich demonstriert. Einen Tag vor der ER-Erstausstrahlung war mit "Chicago Hope" sogar eine ähnliche Serie in direkter Konkurrenz gestartet. 16 Jahre und 15 Staffeln bleiben trotzdem unerreicht und machen ER zur am längsten laufenden Arztserie - und damit im quotenhörigen US-Fernsehen auch zur erfolgreichsten.
Dabei sind die übrigen Zutaten, bis auf die Sorgfalt in den medizinischen Beschreibungen und die bahnbrechende und leichtfüßige Kameraarbeit, die den TV-Serien-Look nachhaltig veränderte, eigentlich die üblichen: Neben den medizinischen Inhalten verlässt sich die Serie auf dramaturgisch dichte Plots in 45 Minuten, die in parallel laufenden Handlungssträngen erzählt werden. Wie bei vielen anderen Arztserien standen im Mittelpunkt der ersten Staffeln zwei überdurchschnittlich begabte, charakterlich unterschiedliche, aber befreundete Ärzte: der bindungsunwillige, unzuverlässige und Frauen vernaschende Kinderarzt Dr. Doug Ross (George Clooney) und der bodenständige und verheiratete Chefarzt Dr. Mark Greene (Anthony Edwards). Parallel dazu wurde das schwierige Verhältnis zwischen einem tölpelhaften Medizinstudenten aus gutem Hause namens John Carter (Noah Wyle) und seinem arroganten Mentor, dem Chirurgen Peter Benton (Eriq La Salle), zum zweiten Minenfeld, auf dem die ZuschauerInnen wöchentlich Streit, Versöhnung, Betrug und Loyalität miterlebten.
Von Anfang an setzte ER jedoch zusätzlich einen starken Fokus auf aktuelle Themen, die in der Serie regelmäßig fiktional gespiegelt wurden: Die Leiterin der Notaufnahme, Dr. Kerry Weaver (Laura Innes), wird sich ihrer Homosexualität über mehrere Episoden hinweg bewusst, über Freundinnen und Kolleginnen erlebt sie jedoch immer wieder berufliche Benachteiligungen von Schwulen und Lesben, sodass ihr Coming-out auf sich warten lässt. HIV am Arbeitsplatz wird bei der Geschichte um die Physiotherapeutin Jeanie Boulet (Gloria Reubens) zum Thema, die ihre Erkrankung an dem Virus zwar durch Medikamente als erster Mensch im US-Fernsehuniversum gut in den Griff bekommt und damit weiterlebt, jedoch unter Diskriminierungen von KollegInnen leidet, ganz wie im richtigen Leben. Und gemischtrassige Beziehungen leiden in der Serie unter den Problemen, die ihnen auch in der realen Gesellschaft begegnen.
Eindrucksvoll haben sich die AutorInnen mit US-Kriegsschauplätzen beschäftigt, und als einer der Ärzte, Dr. Michael Gallant (Sharif Atkins), im Irak umkommt, wird sich seine am ER-Krankenhaus "County General" zurückgebliebene Ehefrau Dr. Neela Rasgotra (Parminder Nagra) später politisch ganz klar gegen die Entsendung von Truppen aussprechen. Mehrere wichtige Episoden spielen zudem in Afrika, im Kongo und im Sudan, wo ER-Ärzte während Bürgerkriegen und unter schlimmsten medizinischen Bedingungen versuchen, den Flüchtlingen zu helfen. Permanent wird dabei über die Afrikapolitik diskutiert.
In den letzten Jahren und mit sinkenden Quoten verließen sich die DrehbuchautorInnen jedoch immer mehr auf das Zwischenmenschliche: Den Erfolg von "Greys Anatomy" erklärte man sich mit den starken Liebesgeschichten der Konkurrenzserie und versuchte, auch die Herzen der ER-HeldInnen zum Klopfen zu bringen. Als Resultat wurden die meisten der älteren und damit aus amerikanischer Sichtweise nicht so für die Liebe geeigneten Charaktere aus dem Geschehen gekürzt. Die Serie, die einst von angehenden ÄrztInnen auf der ganzen Welt als Lehrmaterial angesehen wurde, verwässerte ins Dramatische: Man verliebte und betrog sich, heiratete und verließ sich, bis die Quoten trotz hervorragender NebendarstellerInnen wie Stanley Tucci als ER-Leiter, Dr. Kevin Moretti oder Angela Bassett als Dr. Catherine Banfield, deren Adoptionsversuche wieder ein kontroverses Thema beleuchten, am Boden waren und man die 15. zur letzten Staffel erklärte. Personell hat man darin noch mal alles aufgefahren und sogar den einzigen Superstar der ER-DarstellerInnen, George Clooney, zu einem groß angekündigten, aber lahmen Gastauftritt überreden können.
Wenn also am Mittwoch die letzte ER-Folge in Deutschland ausgestrahlt wird, die durch Downloads vielen Fans eh längst bekannt ist, hat sich die Kaiserin der Arztserien endlich und viel zu spät vom Thron verabschiedet. Denn den haben längst jüngere, innovativere Fernsehereignisse übernommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden