Abschiebung: "Schrecklich entwürdigend"
Eine tschetschenische Familie wurde aus Berlin nach Warschau ausgewiesen, obwohl die drei Kinder krank sind. Jetzt leben sie in einem polnischen Heim - mit neun weiteren Flüchtlingen im Zimmer.
Madina H. weiß nicht mehr weiter. In den letzten Tagen ist sie nervös, gereizt, depressiv. Nachts muss sie weinen. "Durch diese Abschiebung habe ich den Krieg vergessen", lautet das ernüchternde Urteil der 36-jährigen Tschetschenin.
Seit sechs Wochen wohnt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem Flüchtlingsheim nahe Warschau. Im selben Zimmer ist ein Ehepaar mit drei Kindern untergebracht sowie eine weitere Frau mit drei Kindern. Nur ein Vorhang trennt das Zimmer vom Flur ab. Heißes Wasser gibt es nur für zwei Stunden am Tag, deswegen kann sich Madina H. nur alle zwei, drei Tage waschen. Sohn Adam isst kaum noch, hustet ständig und schlägt oft mit der Faust gegen die Wand. Aus dem Zimmer traut er sich nur, wenn der Vater nach draußen zum Rauchen geht. Der sieben Monate alte Säugling Aischat ist stark erkältet. Weil für ihn keine Geburtsurkunde vorliegt, weigern sich die Ärzte, ihn zu behandeln.
Am 8. November wurde die Familie aus Berlin abgeschoben. Der Grund: Sie war im Mai nach Deutschland gereist, obwohl sie in Polen zuerst einen Asylantrag gestellt hatte. Nach der Dublin-II-Verordnung der EU ist immer nur ein Land für einen Flüchtling zuständig: das, in dem der Asylantrag zuerst gestellt wurde.
Den Tag der Abschiebung wird die Familie so bald nicht vergessen. "Es war schrecklich entwürdigend", erzählt der 32-jährige Vater Valid D. der Berliner Dolmetscherin Elena Nowak, die von der Anwältin der Familie, Antonia von der Behrens, engagiert wurde. Alle paar Tage telefoniert sie mit den tschetschenischen Eltern und notiert die Gespräche als Protokolle - aus denen diese Aussagen stammen.
Laut Valid D. hat sich der Tag der Abschiebung so abgespielt: Am frühen Morgen, die Familie schläft noch, dringen Polizisten in das Asylbewerberheim in der Spandauer Motardstraße ein. Vor den Augen der Kinder legen die Polizisten dem Vater Handschellen an. Solche Szenen kennen die Kinder aus Tschetschenien. In blaue Müllbeutel packen die Beamten die Habe der Familie. Sohn Adam schreit, läuft rot an und versteckt sich. Zuerst will er nicht mitgehen, als er dann aber sieht, dass alle gehen, kommt er doch mit. "Wenn ich das beschreibe, wird mir selber ganz elend", sagt Valid D.
Immer wieder halten die Eltern den Polizisten ein Attest für die Kinder vor, das von einer Kinderärztin ausgestellt worden ist - doch vergebens. Die sechsjährige Tochter Hava ist erkältet und muss sich im Polizeiauto übergeben. Säugling Aischat und der siebenjährige Adam sind ebenfalls erkältet. Beide nehmen Antibiotika. Adam leidet außerdem an einer posttraumatischen Belastungsstörung und wurde im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin behandelt.
Das Attest für Adam habe dem Bundesamt seit Monaten vorgelegen, sagt Anwältin Behrens. Schuld am Trauma von Adam seien die Erlebnisse in Tschetschenien: Mehrmals habe die Familie Hausdurchsuchungen miterlebt. Wegen seiner Gegnerschaft zur russlandtreuen Regierung Kadyrow in Tschetschenien sei der Vater verfolgt worden. Der Hintergrund: Als 1999 der zweite Tschetschenienkrieg begann, stellte sich Achmat Kadyrow auf die Seite Russlands. Im Jahr 2000 wurde er vom russischen Präsidenten Wladimir Putin als Verwaltungschef der Republik Tschetschenien eingesetzt - als Widerpart zu Aslan Maschadow, dem bisherigen Präsidenten, der jetzt von Russland nicht mehr anerkannt wurde. Weil Valid D. für Maschadow gekämpft hatte, musste er nach dem Regimewechsel fliehen.
Über Russland kam die Familie nach Polen. Weil sie sich selbst dort nicht sicher gefühlt hätten, reisten sie weiter nach Deutschland, wo die Mutter einen Tag nach der Ankunft Aischat zur Welt brachte.
Der Flüchtlingsrat Berlin kritisiert, dass die Familie ohne ärztliche Untersuchung ausgewiesen worden sei. Nach ärztlichen Aussagen seien die Kinder nicht reisefähig gewesen. Nur ein Polizeisanitäter habe bei den Kindern Fieber gemessen und sie für reisefähig erklärt. Lediglich eine Reisetablette habe er der Tochter gegeben. Der Flüchtlingsrat verurteilt die Abschiebung: "Es darf nicht sein, dass eine Asyl suchende Familie mit kranken Kleinkindern abgeschoben wird, ohne dass ihre Aufnahme und ärztliche Versorgung in Polen sichergestellt sind."
Inzwischen sei eine Strafanzeige gegen den Polizeisanitäter und alle an der Abschiebung beteiligten Personen gestellt worden - und darüber hinaus ein Antrag auf Wiedereinreise beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sagt Anwältin Behrens. Polen könne die medizinische Versorgung der Familie nicht angemessen leisten, so die Begründung. Nicht böser Wille, sondern schlicht die hohen Flüchtlingszahlen seien dafür verantwortlich, so Behrens. Sie kritisiert, dass das Bundesamt Anspruch über Wirklichkeit stelle. Das Bundesamt wiederum weist in dem Asylablehnungsbescheid, welcher der taz vorliegt, darauf hin, "dass grundsätzlich in allen Mitgliedsstaaten der Dublinverordnung ein vergleichbarer Mindestbehandlungsstandard herrscht".
"Dieser Fall illustriert eine grundsätzliche Problematik: Deutschland gibt seine Verantwortung komplett ab, und das, obwohl es so wenige Antragsteller gibt wie lange nicht mehr", sagt Behrens. Das sei überhaupt nicht nachvollziehbar. Anfang der 90er-Jahre gab es im Zuge der Balkankriege so viele Asylanträge wie nie zuvor, doch seither gehen die Zahlen kontinuierlich zurück. 2006 waren es noch 30.000 Antragssteller, von denen über 90 Prozent abgelehnt wurden. "Es gibt die Angst, dass das System aufgeweicht wird", sagt Behrens.
Was das konkret bedeutet, bekam die tschetschenische Familie am eigenen Leib zu spüren. Valid D. erzählt es so: Im Abschiebegefängnis Berlin-Grünau will er die Anwältin anrufen, doch wird ihm gleich das Telefon abgenommen. Polizisten machen Witze über das in Mülltüten verpackte Gepäck, hören damit aber auf, als ein Mann, wahrscheinlich ein Pole, explodiert: "So darf man mit den Menschen nicht umgehen!" Auf der Fahrt zur Grenze weinen und husten die Kinder. Dort angekommen, müssen die fünf in eine kalte Zelle und werden von Beamten verhört. In einem Schnellgerichtsverfahren werden sie ohne Beisein eines Anwalts wegen illegaler Ausreise verurteilt. "Ich habe nicht verstanden, dass das eine Gerichtsverhandlung war; das habe ich erst verstanden, als man gesagt hat, dass wir zwei Jahre auf Bewährung bekommen haben", so Valid D.
Anschließend wird die Familie in einen Zug nach Warschau gesetzt, ohne dass ihnen gesagt wird, wohin sie gehen sollen. Mit den letzten 120 Euro kaufen sie die Fahrkarten. Am späten Abend kommen sie in Warschau an - ohne den ganzen Tag etwas zu essen oder zu trinken bekommen zu haben. Um Mitternacht stehen sie bargeldlos am Bahnhof; wo sie übernachten können, wissen sie nicht, denn zum 60 Kilometer entfernten Flüchtlingsheim fährt kein Bus mehr. Am Ende des Telefongesprächs zwischen der Dolmetscherin und Valid D. sagte der Familienvater: "Ich kann jetzt nicht weitererzählen, mir geht es zu schlecht. Sie haben uns nicht menschenwürdig behandelt."
Gegenwärtig untersucht das Verwaltungsgericht Berlin, ob die Abschiebung rechtens war und ob nicht aufgrund der schlechten Versorgungslage in Polen Deutschland dafür zuständig ist, den Asylantrag zu prüfen. In diesem Fall müsste der Familie erlaubt werden, wieder nach Deutschland einreisen zu dürfen, so Behrens. Rein rechtlich ist das mit dem "Selbsteintrittsrecht" Deutschlands möglich - allerdings eher unwahrscheinlich. Beim Bundesamt heißt es nur, zu Einzelfällen könne man keine Stellung nehmen.
Mutter Madina H. hofft weiterhin auf ein Leben ohne Angst. Sie klammert sich an die Telefonate nach Deutschland. Die Dolmetscherin Elena Nowak sagt, die gäben ihr noch einen Rest an Halt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“